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Aderlass
Der Aderlass, das (Zur-Ader-)Lassen oder Aderlassen, auch die Phlebotomie (althochdeutsch (bluot) lāzan, lāzzan, lāzsan, lazan, lāzzen, lātzen, lāzzin, lān, lōtan;mittelhochdeutsch lāze, lāzen bzw. bluot lāzen, aderlæze und āderlāzen; griechisch phlebotomia; mittellateinisch venaesectio;englisch blood letting, bleeding, phlebotomy), ist ein seit der Antike bekanntes und bis ins 19. Jahrhundert häufig bei Menschen und Tieren angewandtes Heilverfahren. Beim Aderlass zu therapeutischen Zwecken werden dem (erwachsenen) Menschen etwa zwischen 50 und 1000 ml, heute meist maximal 500 ml Blut entnommen. Nur bei wenigen Krankheitsbildern konnte ein Heilungseffekt durch Aderlass nachgewiesen werden. Infolgedessen ist er weitgehend aus dem medizinischen Alltag verschwunden.
Der Aderlass ist, wie auch das Schröpfen, eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen. Er war schon vor der Zeit des Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) bekannt und galt neben der Anwendung von Brechmitteln und Abführmitteln bis ins 19. Jahrhundert als eine der wichtigsten, wenn auch umstrittenen, medizinischen Therapieformen. Auf der Grundlage der antiken Säftelehre sollte der Aderlass schädliche oder im Übermaß vorhandene Säfte aus dem Körper entfernen.
Umgangssprachlich wird gelegentlich auch die Blutspende als Aderlass bezeichnet. Auch finanzielle Einbußen oder Verluste an Soldaten und Material können im übertragenen Sinn gemeint sein.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einsatz in der heutigen Medizin
- 2 Einsatz in der Alternativmedizin
-
3 Geschichte
- 3.1 Theorie und Praxis in der Geschichte
- 3.2 Antike
- 3.3 Mittelalter
-
3.4 Neuzeit
- 3.4.1 Pierre Brissot – Andreas Vesalius – Leonhart Fuchs – Lorenz Fries – Santorio Santorio
- 3.4.2 Paracelsus – Leonardo Botallo – Johan Baptista van Helmont
- 3.4.3 William Harvey – Marcello Mapighi – Jean Riolan
- 3.4.4 Charles Bouvard – Molière
- 3.4.5 Thomas Sydenham – Bernardino Ramazzini
- 3.4.6 Lorenzo Bellini – Jean-Baptiste Silva – Jean Claude Adrien Helvétius – Julien Offray de La Mettrie
- 3.4.7 Georg Erhard Hamberger – François Quesnay – Jean-Baptiste Sénac – Anton de Heyde – Albrecht von Haller
- 3.4.8 Friedrich Hoffmann – Georg Ernst Stahl
- 3.4.9 Théophile de Bordeu – Paul Joseph Barthez – Johann Christian Reil
- 3.4.10 Philippe Pinel – François Simonnet de Coulmier – Joseph Gastaldy
- 3.4.11 Herman Boerhaave – Gerard van Swieten
- 3.4.12 William Cullen – John Brown – Giovanni Rasori
- 3.4.13 Johann Gottlieb Wolstein – Christoph Wilhelm Hufeland – Samuel Hahnemann – Johann Gottfried Rademacher
- 3.4.14 Jean-Nicolas Corvisart – René Laennec – François Broussais – Jean-Baptiste Bouillaud
- 3.4.15 Pierre Charles Alexandre Louis – Marshall Hall – Joseph Dietl
- 4 Rückblick und Ausblick
- 5 Aderlass und Akupunktur
- 6 Aderlass in Japan
- 7 Aderlass in der ayurvedischen Medizin
- 8 Unfreiwilliger Aderlass
- 9 Siehe auch
- 10 Literatur
- 11 Weblinks
- 12 Einzelnachweise
Einsatz in der heutigen Medizin
Wie die Blutentnahme zur Blutspende wird der Aderlass heute an den großen Venen der Arme ausgeführt.
Nur bei wenigen Erkrankungen spielt der Aderlass heute eine wichtige Rolle:
- Bei der Polycythaemia vera, einer Erkrankung, die insbesondere zu einer krankhaft vermehrten Bildung von Erythrozyten (rote Blutkörperchen) und damit zu einer Erhöhung der Blutviskosität führt, ist der Aderlass die Therapie der Wahl. Zur Behandlung der Erkrankung werden anfänglich häufig sechs bis acht Aderlässe im wöchentlichen Abstand (jeweils bis zu 500 ml) durchgeführt, um den lebensbedrohlich hohen Hämatokritwert (teilweise über 60 %) auf einen Normalwert (ca. 45 %) abzusenken. Danach erfolgt diese Maßnahme in sechs- bis zwölfwöchigen Abständen, wenn nicht andere medizinische Schritte eingeleitet werden.
- Bei der Hämochromatose, einer Erkrankung des Eisenstoffwechsels, werden lebenslang Aderlässe zur Senkung des Eisengehaltes im Körper durchgeführt.
- Bei einer Polyglobulie kann eine Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes durch Aderlass erforderlich werden, wenn beispielsweise eine Zentralvenenthrombose im Auge droht oder bereits aufgetreten ist. Bei reaktiven Formen der Polyglobulie ist die Aderlass-Therapie jedoch kontraindiziert, da die Patienten die vermehrten Sauerstoffträger benötigen.
- Bei Porphyria cutanea tarda, einer Störung der Synthese des roten Blutfarbstoffs Häm, kann durch Aderlässe Eisen entfernt werden, das ansonsten in der Leber Schäden anrichtet.
- Klinische Studien deuten darauf hin, dass häufige Blutspenden eine nicht nur vorübergehende, deutlich blutdrucksenkende Wirkung bei Bluthochdruck zeigen. Diese Beobachtung wurde jedoch nicht durch ausreichend große, randomisierte kontrollierte Studien überprüft.
- Beim kardialen Lungenödem kann der blutige Aderlass mit 300 bis 500 ml indiziert sein, besonders wenn zusätzlich eine Polyglobulie besteht.
Einsatz in der Alternativmedizin
- In der Alternativmedizin zählt der Aderlass (wie auch das Schröpfen) zu den ausleitenden Verfahren. So auch in dem von Gottfried Hertzka entwickelten „Aderlass nach Hildegard von Bingen“.
Geschichte
Theorie und Praxis in der Geschichte
Theorie
Die Anwendung des Aderlasses beruhte auf dem System der Säftelehre, welches Krankheit als Ungleichgewicht in der Vermischung (Dyskrasie) der Säfte (Blut – Cholera/gelbe Galle – Melancholia/schwarze Galle – Phlegma/Schleim) oder als Degeneration einzelner dieser Säfte deutete.
Zwei Aderlass-Verfahren wurden unterschieden:
- Die Derivation (lateinisch derivatio „Ableitung“), die von der Vorstellung ausging, die „verdorbenen Säfte“ oder die „fehlerhafte Säftemischung“ müssten aus dem Körper auf direktem Wege entfernt werden. Dazu wurde der Aderlass in der Nähe der erkrankten Region mit der Ausleitung von großen Blutmengen ausgeführt.
- Die Revulsion (lateinisch revulsio „Umwälzung“), die von der Befürchtung ausging, bei der „Derivation“ würden mit den „schlechten Säften“ auch die „guten Säfte“ entfernt. Bei der „Revulsion“ wurde der Aderlass weit entfernt von der erkrankten Region mit der Ausleitung von geringen Blutmengen ausgeführt. Das Ziel war, die in der erkrankten Region angesammelten „schlechten Säfte“ von dort abzuleiten und durch „bessere Säfte“ oder durch „besser durchmischte Säfte“ zu ersetzen.
Die frühesten exakten Angaben über vermutete Beziehungen zwischen dem Aderlass und der Stellung der Planeten finden sich im Regimen sanitatis Salernitanum. Es enthält die Anweisung, den Aderlass vornehmlich im April, Mai und September auszuführen, sowie die Feststellung, dass Jupiter und Venus dem Eingriff günstig, Saturn und Mars ihm hingegen ungünstig sind. Überdies müsse auch den verschiedenen Mondphasen Rechnung getragen werden. Ausdrücklich wird jedoch gesagt, dass in dringlichen Fällen diese Regeln außeracht gelassen werden dürfen.
Zodiak-Mann mit Tierkreiszeichen in Analogie zu den Körperteilen
Jedes der 12 Tierkreiszeichen beherrscht eine Region des menschlichen Leibes:
- Widder – Haupt und Antlitz
- Stier – Hals und Kehle
- Zwillinge – Arme und Hände
- Krebs – Brust
- Löwe – Magen und Niere
- Jungfrau – die übrigen Eingeweide
- Waage – Rückgrat und Gesäß
- Skorpion – Weichen und Schamglieder
- Schütze – Hüften und Schenkel
- Steinbock – Knie
- Wassermann – Schienbein
- Fische – Knöchel und Fußsohle
In dieser Hinsicht galt vor allem als Grundsatz, den Aderlass zu vermeiden, wenn der Mond in jenem Zeichen des Tierkreises steht, welches den betreffenden Körperteil regiert. So hielt man es zum Beispiel für kontraindiziert, an Armen und Händen zur Ader zu lassen, wenn der Mond sich im Zeichen der Zwillinge bewegt.
Es finden sich jedoch auch andere, mehr oder weniger davon abweichende Anweisungen, so etwa bei dem Salernitaner Arzt Archimatheus, der um 1165 schrieb: „Ferner achte beim Aderlaß auf die Zeit der Krankheit, die Jahreszeit, die Kräfte und das Alter des Kranken. Vom Beginn des Herbstes an bis zum Frühling entnimm das Blut aus dem linken Arm, vom Frühlingsanfang an aus dem rechten Arm. Wegen einer Erkrankung des Gehirn schneide in die Vena cephalica, bei einer Erkrankung der Atmungsorgane in die Vena mediana, bei einem Leiden der ernährenden Organe in die Vena hepatica; wenn du den Kranken zur Ader läßt, halte alle Sorgen von ihm fern.“
Praxis
Beim Aderlass wurde das Blut meist durch die Eröffnung von Venen entfernt (Phlebotomie). Der einen Aderlass praktizierende Therapeut wurde Phlebotomus genannt. Genauso hieß auch das Aderlasswerkzeug, der so genannte Aderlassschnäpper. Die „zu große Vorliebe für das Aderöffnen als Heilmittel hat Christian Friedrich Harleß 1828 in den Heidelberger klinischen Annalen als Phlebotomomania (Aderlasswuth) bezeichnet.“
Spätestens seit Galen (2. Jahrhundert n. Chr.) wurde der Aderlass aber auch, wenn auch selten, durch die Eröffnung von Arterien (Arteriotomie, Sectio arteriae, Schlagaderschnitt, Schlagaderöffnung mit einem Arteriotom) praktiziert. Ob die Arteriotomie bereits von den Griechen ausgeführt wurde, kann nur vermutet werden, da nicht sicher abzuklären ist, ob vor Galen mit der Bezeichnung „Arterien“ auch wirklich diese Gefäße gemeint waren. Galen verordnete die Arteriotomie an den Schläfenarterien bei chronischem Kopfschmerz. Er beschrieb das Vorgehen genau. Für den Fall, dass die Blutung nach dem Eingriff nicht durch einfache Kompression des Blutgefäßes zu stillen war, empfahl er die Exzision eines Teils der Arterie mit anschließender doppelter Ligatur der verbliebenen Gefäßenden.
Antike
- Ägypten. Auf Grund der zur Verfügung stehenden Quellen scheint es, dass der Aderlass im alten Ägypten weder im Rahmen der ursprünglich magischen Medizin noch von den diese ablösenden Priestern und Ärzten vorgenommen wurde. Ein Aderlass beim Menschen wird weder im Papyrus Ebers noch im Papyrus Smith noch in den Medizinischen Papyri aus Lahun erwähnt.
- Bibel. In der Bibel wird der Aderlass nicht erwähnt. Dagegen wird er im Talmud mehrmals als Behandlungsmethode genannt.
- Corpus Hippocraticum (6. Jh. v. Chr. – 2. Jh. n. Chr.). In der Schrift Über die Diät bei akuten Krankheiten im Corpus Hippocraticum wird der „derivativ“ auszuführende Aderlass an mehreren Stellen erwähnt und bei verschiedenen Krankheiten empfohlen, das heißt, es sollte in der Nähe der erkrankten Region durch Aderlass eine große Blutmenge entzogen werden. Im Corpus Hippocraticum wurde lediglich in der Schrift Über die Natur des Menschen ein „revulsiv“ wirkendes Verfahren angegeben. Diese Abhandlung wurde Polybos (um 400 v. Chr.), dem Schwiegersohn des Hippokrates, zugeschrieben und enthält im Kapitel 11 mit der Beschreibung der Gefäßverläufe eine der ältesten zusammenhängenden Schilderungen der Blutgefäße des Menschen. Zur Behandlung von Schmerzen in der Lende und in den Hoden wurde darin der Aderlass in der Kniekehle und unter den Innenknöcheln empfohlen.
- Alexandrinische Schule. Erasistratos (um 305 v. Chr. bis um 250 v. Chr.) war zusammen mit Herophilos (4. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) Hauptvertreter der Alexandrinischen Ärzteschule. Im Gegensatz zu Herophilos war er ein erklärter Aderlassgegner.
- Ärzteschule der Empiriker (um 250 v. Chr. gegründet). Die Anhänger der Ärzteschule der Empiriker standen dem Aderlass im Allgemeinen positiv gegenüber. Sie schränkten ihn aber ein und verwendeten stattdessen mehr Klistiere und Abführmittel. Diokles von Karystos (um 300 v. Chr.) gehörte zur Schule der Empiriker und er empfahl den „derivativ“ auszuführenden Aderlass vor allem bei Pleuritis und bei Pneumonie. Auch Herakleides von Tarent (um 75 v. Chr.) und Menodotos von Nikomedeia (um 100 v. Chr.) gehörten der Schule der Empiriker an und sie standen dem Aderlass im Allgemeinen positiv gegenüber. Gegner des Aderlasses und Empiriker war Chrysippos von Knidos (um 365 v. Chr.). Er empfahl stattdessen Umschläge und Bandagen.
- Ärzteschule der Methodiker (1. Jh. v. Chr.). Die Anhänger der Ärzteschule der Methodiker praktizierten den Aderlass „revulsiv“ in Bezug auf die örtliche Wahl der Aderlass-Stelle, „derivativ“ in Bezug auf die gelassenen Blutmengen. So wählte Themison von Laodikeia (2. bis 1. Jahrhundert v. Chr.), ein Schüler des Asklepiades von Bithynien, für den Eingriff zwar vom Krankheitsort weit entfernte Orte („Revulsion“), entzog andererseits aber große Blutmengen bis zum Eintreten der Ohnmacht („Derivation“). Soranos von Ephesos (1. Jahrhundert v. Chr.) war der einzige Methodiker, der eine gewisse Zurückhaltung bei der Aderlass-Anwendung zeigte.
- Celsus (um 25 v. Chr. – um 50 n. Chr.). In der Tradition der alexandrinischen Ärzteschule verfasste Celsus seine Enzyklopädie De medicina, in deren Buch II er dem Aderlass ein besonderes Kapitel widmete. Dabei grenzte er sich von der überbordenden Aderlass-Praxis der Methodiker ab. Bei der Festlegung der Aderlass-Indikationen forderte er eine flexible Beurteilung nach dem Alter und nach dem Kräftezustand der erkrankten Person. Wenn danach ein Übermaß an Säften vorhanden sei, mit rotem Körper und prall gefüllten Adern, oder wenn die Säfte selbst verdorben seien, so würden heftiges Fieber, Krankheiten der Eingeweide, Lähmungen, Starrkrampf, klonische Krämpfe, alle heftigen Atmungsbeschwerden, der plötzliche Verlust der Stimme und alle akuten Krankheiten die Blutentziehung fordern. Für den Fall, dass die Krankheit den Aderlass fordere, der allgemeine Kräftezustand dem aber entgegenstehe, wie zum Beispiel bei einem akuten Schlaganfall und vermindertem Kräftezustand, sei es die Pflicht des guten Arztes, die mit dem Eingriff verbundene Gefahr offenzulegen, aber auch mitzuteilen, dass ohne Aderlass keine Hoffnung vorhanden sei. „Dann sei es besser, ein zweifelhaftes Mittel anzuwenden, als gar keines“ („Satius est enim anceps auxilium experiri quam nullam“). In der Regel sollte der Aderlass auf zwei Tage verteilt werden. Bei allgemeinen Krankheiten lasse man am Arm zur Ader, bei Lokalleiden am leidenden Teil. Celsus warnte vor der Gefahr einer Verletzung der Arterien und der „Nerven“ (lateinisch nervi: Nerven, auch Sehnen) beim Aderlass. Er gab auch Hinweise zur Beurteilung des gelassenen Blutes und zur Versorgung der durch den Aderlass entstanden Wunde.
- Galen (2. Jh. n. Chr.) gilt als der Begründer der Lehre von der Fülle (plenitudo), auf der er ein ganzes medizinisches System aufbaute, das die „ausleerende Therapie“ und darunter auch den Aderlass zur wichtigsten Heilmethode werden ließ. Klar wurden jedoch auch die Richtlinien für diesen Eingriff angegeben: Sie wurden bestimmt vom Charakter der Krankheit, dem Kräftezustand und dem Alter des Patienten ebenso wie von einer eventuellen Schwangerschaft. Der Eingriff durfte bei Kleinkindern sowie bei alten und schwächlichen Patienten nicht vorgenommen werden. Ungleich den meisten Vertretern der „Hippokratischen Schule“ verschrieb Galen den Eingriff in der Regel „revulsiv“ an einer vom Herd des Übels weit entfernten Stelle. Bei Pleuritis und Pneumonie habe der Eingriff keinen oder doch nur einen geringen Nutzen, wenn er „derivativ“ am Arm der kranken Körperhälfte ausgeführt werde.
Mittelalter
Arabisches Mittelalter
- Rhazes (865–925). Zu prophylaktischen Zwecken verordnete Rhazes den Eingriff z. B. zur Zeit der ersten Reife des Organismus, da er der Auffassung war, dass diese Zeit eine Reinigung des Blutes erfordere. Bei Windpocken und Krankheiten des Schlundes, bei denen Erstickungsgefahr besteht, hielt er es für angezeigt, den Aderlass an der Cephalica vorzunehmen.
- Avenzoar (1091–1161). Avenzoar empfahl eine „revulsive“ Technik, indem er den Aderlass bei Pleuritis an einem dem Krankheitsherd entgegengesetzten Ort vorschrieb. Er griff jene Ärzte heftig an, die nicht so vorgingen, und behauptete, dass am Krankheitsherd ausgeführte Aderlässe den Tod des Patienten zur Folge haben könnten.
- Abulcasis (936–1013) und
- Avicenna (um 980–1037).
- Die Ausführungen über den Aderlass im Chirurgie-Teil der Schrift At-Tasrif des Abulcasis und im ersten Buch des Kanon der Medizin Avicennas haben die europäische Aderlass-Praxis bis ins 16. Jahrhundert, teilweise bis ins 19. Jahrhundert, geprägt. Abulcasis hat auch diverse zum Eingriff benötigte Geräte, so die Lasseisen (deutsch „fliete“ aus griechisch-lateinisch „phlebotom“), bereits beschrieben.
Lateinisches Mittelalter
Im Frühmittelalter und im Hochmittelalter praktizierten Mönche den Aderlass zunächst im Rahmen der Klostermedizin. Nachdem jedoch der 18. Canon der Beschlüsse des vierten Laterankonzils aus dem Jahre 1215 festgelegt hatte, dass „kein Subdiakon, Diakon oder Priester den Teil der Chirurgie ausüben dürfe, der Kauterisation und Schneiden umfasst“, wurde der Aderlass an die außerhalb der Klöster lebenden Barbiere und Wundärzte delegiert. Im Spätmittelalter boten dann auch Klöster wieder den Aderlass an.
- Heinrich von Mondeville (1260–1320). In der Einleitung des Aderlasskapitels seines Chirurgiebuches schrieb Heinrich von Mondeville:
- „Da sie ihn für unter ihrer Würde hielten, haben die Ärzte den Aderlass seit langer Zeit den Chirurgen überlassen.
- Später haben die Chirurgen diese Operation aus folgenden Gründen den Barbieren überlassen: 1. weil sie wenig einbringt, 2. weil sie eine unwichtige und leicht auszuführende Operation ist.“
- In der Praxis sei es so, dass die Reichen, die Adeligen und die Kirchenleute den Aderlass nach dem Rat eines Arztes vom Barbier ausführen ließen, das gemeine Volk dafür aber direkt zum Barbier gehe.
- Guy de Chauliac (um 1298–1368). Im 7. Traktat, 2. Doktrin, 1. Kapitel seiner Großen Chirurgie schrieb Guy de Chauliac über Aderlass, Schröpfen und Blutegelbehandlung. Er zitierte Hippokrates, Erasistratos, Galen, Rhases, Abulcasis, Avicenna … Den Aderlass nannte er das nobelste Heilmittel. Bei Bedarf könne er jederzeit abgebrochen werden, während ein eingenommenes Medikament nicht mehr aus den Gedärmen zu entfernen sei. Mit Bezug auf seine Gewährsleute gab er einen Überblick der Indikationen, der Technik und der Vorsichtsmaßnahmen des Eingriffs. Die einzelnen Aderlassstellen wurden nur beiläufig erwähnt. Er unterschied zwischen „revulsivem“ Aderlass und „derivativem“ Aderlass und ordnete jedem dieser Verfahren spezifische Indikationen zu. Die Astrologie wurde von ihm zur Bestimmung der Aderlass-Zeit herangezogen und auch die verbotenen (ägyptischen) Tage wurden von ihm benannt. Den Schluss der Abhandlung über den Aderlass bildete eine Beurteilung des Aussehens des gelassenen Blutes.
- Johannes de Rupescissa (um 1310 – nach 1365). Der apokalyptische Visionär Johannes de Rupescissa beschrieb in seinem Buch De consideratione quintae essentiae die Darstellung von Quintessenzen nach alchemistischen Arbeitsmethoden. Diese Quintessenzen sollten das Christenvolk in der Abwehr gegen die nach seiner Ansicht bald drohende Herrschaft des Antichristen stärken. Eine dieser Quintessenzen sollte aus Menschenblut hergestellt werden. Dazu war das beim Aderlass gewonnene Blut eines jungen, gesunden männlichen Sanguinikers nach Abscheiden des Serumanteils mit Salz zu vermengen. Dieses Gemisch wurde in einem verschlossenen Glasgefäß in warmen Pferdemist eingegraben, und, nachdem es sich dort verflüssigt hatte, mit einem Alembik mehrmals destilliert.
- Im 15. Jahrhundert war die Consideratio quintae essentiae des Johannes de Rupescissa im südwestdeutschen Raum landessprachig als Bůch von dem fünfften wesen weit verbreitet. Auch Hieronymus Brunschwig benutzte sie als Quelle für sein Kleines Destillierbuch. Darin empfahl er ein aus Menschenblut destilliertes Wasser zur äußerlichen Anwendung bei Lähmung, als Haarwuchsmittel und zur Behandlung von „Fisteln“, sowie zur inneren Anwendung bei „Schwindsucht“. In den 1520er Jahren wurden Teile von Brunschwigs Destillierbüchern durch den aus Nürnberg stammenden Philipp Ulstad in lateinischer Übersetzung als Coelum philosophorum herausgegeben, insbesondere die Abschnitte, für die Brunschwig Johannes de Rupescissa als Quelle benutzt hatte. Als Indikation für ein aus Menschenblut gewonnenes Destillat gab Ulstad „quocunque morbus – siechtag der sei wie er will“ an.
Aderlass-Texte und Aderlass-Abbildungen
… Cgm 32, … Kalender und Praktika, 14. Jahrhundert
… Clm 2777, … Kalender 1469
Clm 18294, 1471
… Cpg 291, Bayern, … 2. Hälfte des 15. Jh.
… Clm 206, … Kalender, 15. Jh.
Fasciculus Medicinae. Venedig 1491
Hans von Gersdorff: Feldbuch der Wundarznei, Straßburg 1517
Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit wurden zahlreiche Aderlasskalender und Aderlasstraktate verfasst. So etwa 1520 von Alexander Seitz, 1524 von Peter Apian und Anfang des 16. Jahrhunderts der Trierer Aderlasskalender. Als für die praktische Ausführung bezüglich etwa der Schnitttechnik, der Lassstellen (bis zu 25 Aderlass-Stellen waren geläufig) und der Indikationen beim Aderlass wichtige Schrift im Mittelalters gilt die (pseudo-hippokratische) Phlebotomia Hippocratis, ein als Quästionentext vorliegender Aderlass-Traktat, der sich bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, von Maurus von Salerno bearbeitet wurde, bearbeitet ins Deutsche übersetzt wurde und Einfluss auf weitere mittelalterliche Aderlasstexte nahm. Der zu Beginn des 12. Jahrhunderts in einer rheinfränkischen Handschrift erstmals belegte und vielleicht eher entstandene lateinische Kurztraktat Laus phlebotomiae (Lob des Aderlasses), unter anderem auch als De minutionis utilitate (wörtlich: Über den Nutzen des Lassens) überliefert, findet sich im Anhang zur Phlebotomia Hippocratis und hatte ebenfalls großen Einfluss auf die spätmittelalterliche Medizinliteratur.
- „Vierundzwanzig-Paragraphen-Text“. Im 13. oder frühen 14. Jahrhundert wurde ein Traktat verfasst, der vorwiegend aus dem Canon Avicennas schöpfte und in dem die Lokalisationen von circa 24 Aderlass-Stellen und ihre Indikationen aufgezählt wurden. Praxisgerecht waren sie in der Reihenfolge „von Kopf bis Fuß“ aufbereitet. Bis ins 16. Jahrhundert wurde dieser „Vierundzwanzig-Paragraphen-Text“ zusammen mit Abbildungen der Aderlass-Stellen in Manuskripten und Drucken verwendet.
- Jakob Engelin (um 1360 – vor 1427), der bis 1406 als Leibarzt von Leopold von Österreich belegt ist, wird ein Aderlass-Traktat zugeschrieben, der in zahlreichen Manuskripten des 15. Jahrhunderts enthalten ist.
- In einem zwischen 1450 und 1470 in Süddeutschland abgefassten Manuskript (Cpg 644) wird ein Aderlasstext erstmals greifbar, der den Grundstock des Aderlassteils im Fasciculus Medicinae von 1491 bildete. 1517 übersetzte Hans von Gersdorff wesentliche Anteile dieses Traktats ins Deutsche.
Für den praktisch tätigen Arzt des (Spät-)Mittelalters gab es sogenannte Lasszettel und Aderlassbüchlein, in welchen – meist im „Taschenformat“ wie das um 1480 verfasste Haager Aderlaßbüchlein im Quartformat – die wichtigsten Aderlassvorschriften (Lassregeln) verzeichnet waren.
Zur Behandlung zum Beispiel der Pest wurden Aderlässe auch in Eigentherapie, also ohne Arzt, durchgeführt. So wurden um 1400 von bairisch-österreichischen und schwäbischen Laienärzten sogenannte Pestlassmännlein publiziert. Die entsprechenden Lassstellen wurden mittels gezeichneter Ganzkörperfiguren („Aderlassmann“) erklärt.
In den Aderlassbüchlein wurden oft Anweisungen sowohl zum Aderlass als auch zur Blutschau beschrieben. Ein vor 1480 verfasstes sogenanntes Bairische Aderlaßbüchlein (überliefert im Heidelberger cpg 558) enthält wie auch das etwa zur gleichen Zeit (im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts) entstandene rheinfränkische Genter Aderlaßbüchlein unter anderem Exzerpte aus Ortolf von Baierland und diente als kompiliertes Nachschlagewerk der schnellen Information des zur Ader lassenden Arztes. Im um 1520 (zwischen 1516 und 1531) in Südböhmen aus spätmittelalterlichen Quellen zusammengestellten Asanger Aderlaßbüchlein sahen die Verfasser (wohl zwei Wundärzte) den Aderlass als „wichtigste Methode heilkundlichen Handelns“ an.
Diagnostischer Aderlass – Aderlass-Risiken
Neben dem therapeutischen Aderlass existierte bereits im Mittelalter ein damit oft verbundener diagnostischer Aderlass zu Blutuntersuchung, die Blutschau (Hämatoskopie), welche vor allem von Maurus von Salerno, beruhend auf der ins 8. Jahrhundert zurückreichenden pseudohippokratischen Phlebotomia Hippocratis, geprägt war und in Lehrwerken von Bernhard von Gordon, Heinrich von Mondeville und Ortolf von Baierland verbreitet wurde. Zur Blutschau wurde das in einem sogenannten „Lassbecher“ (mittelhochdeutsch lāzbecher) aufgefangene Blut vom Arzt inspiziert und daraus für den Patienten die Krankheit bestimmt. Entwickelt hatte sich die Blutschau gemäß Friedrich Lenhardt „aus den Anweisungen zur Bemessung der Menge des Aderlaßblutes […], als deren Kriterien u. a. Konsistenz und Farbe des frischen Aderlaßbluts genannt werden“.
Möglicher Risiken eines Aderlasses war man sich auch schon im Mittelalter bewusst und hatte auch ein Repertoire zur Behandlung unerwünschter Nebenwirkungen. Die Möglichkeit eines Bewusstseinsverlustes beim Aderlass nutzte und empfahl der Chirurg Wardrop 1823, der bei einer Patientin, der er einen Tumor an der Stirn entfernen wollte, etwa einen Liter Blut entzogen hatte.
Neuzeit
Pierre Brissot – Andreas Vesalius – Leonhart Fuchs – Lorenz Fries – Santorio Santorio
Aderlass-Streit. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts initiierte der französische Arzt und Humanist Pierre Brissot den „Aderlass-Streit“, eine Kontroverse, die entbrannte, als er im Gegensatz zur damaligen Lehrmeinung dafür eintrat, den Aderlass möglichst nahe am erkrankten Organ durchzuführen („Derivation“ statt „Revulsion“). Insbesondere vertrat er dies bei Brust- und Lungenentzündungen, bei denen er anlässlich einer Epidemie 1514 mit seiner Methode Erfahrungen sammeln konnte. Er berief sich dabei auf die entsprechenden Aussagen in der Schrift Über die Diät bei akuten Krankheiten im Corpus Hippocraticum. Brissot gab an, die „Revulsion“ beim Aderlass sei erst durch die Araber (Ibn Zuhr) eingeführt worden. Obschon einige Vertreter der Pariser Fakultät sich den Lehren Brissots anschlossen, gelang es deren Gegnern dennoch, ein Dekret zu erwirken, das die Anwendung des derivativ wirkenden Aderlasses verbot. Der Kampf um den Aderlass führte zu einer Spaltung in der medizinischen Welt und zum Kampf zwischen Galenismus und Hippokratismus. Brissot starb in der portugiesischen Verbannung. Seine Schriften wurden jedoch kommentiert und je nach der Einstellung des Kommentators überaus gelobt oder heftig bekämpft. Zu den Gegnern Brissots gehörte Thomas Erastus (1524–1583).
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Paracelsus – Leonardo Botallo – Johan Baptista van Helmont
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William Harvey – Marcello Mapighi – Jean Riolan
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Charles Bouvard – Molière
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Thomas Sydenham – Bernardino Ramazzini
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Lorenzo Bellini – Jean-Baptiste Silva – Jean Claude Adrien Helvétius – Julien Offray de La Mettrie
Bellinis Lehre. Lorenzo Bellini, ein Schüler von Marcello Malpighi und Francesco Redi, versuchte die Lehre von der „Revulsion“ und „Derivation“ mit den Gesetzen des Kreislaufes zu vereinbaren. Aufgrund theoretischer Erwägungen stellte er die Behauptung auf, dass nach Beseitigung der Widerstände durch die Venenöffnung mehr Blut mit größerer Schnelligkeit in das verwundete Gefäß hineinströmen müsse als in alle übrigen Gefäße, wo die Blutsäule der Geschwindigkeit des venösen Blutes ein Hindernis entgegensetze. Denn Geschwindigkeit und Blutmenge in einem Gefäß seien allgemein umgekehrt proportional zu den Widerständen. Diese erhöhte Geschwindigkeit teile sich allmählich der zuführenden Arterie und schließlich dem ganzen Gefäßsystem mit und dauere so lange, bis die Kraft des Herzens geschwächt werde. Auch nach Verschluss der Vene dauere die Geschwindigkeitserhöhung noch eine Zeit lang fort, und zwar in dem entleerten Gefäß am meisten. Auf diese Weise entstehen demnach ein Zufluss zur Aderlass-Stelle und eine Ableitung aus anderen Teilen.
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Georg Erhard Hamberger – François Quesnay – Jean-Baptiste Sénac – Anton de Heyde – Albrecht von Haller
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Friedrich Hoffmann – Georg Ernst Stahl
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Théophile de Bordeu – Paul Joseph Barthez – Johann Christian Reil
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Philippe Pinel – François Simonnet de Coulmier – Joseph Gastaldy
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Herman Boerhaave – Gerard van Swieten
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William Cullen – John Brown – Giovanni Rasori
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Johann Gottlieb Wolstein – Christoph Wilhelm Hufeland – Samuel Hahnemann – Johann Gottfried Rademacher
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Jean-Nicolas Corvisart – René Laennec – François Broussais – Jean-Baptiste Bouillaud
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Pierre Charles Alexandre Louis – Marshall Hall – Joseph Dietl
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Noch 1934 empfahl zum Beispiel Leopold Lichtwitz ausdrücklich den Aderlass mit ausführlicher Begründung zur Behandlung des eklamptischen Anfalls bei der Urämie. Hans Julius Wolf riet von 1942 noch bis 1960 in seinem Lehrbuch wiederholt und eindringlich zum Aderlass („500 bis 1000 ccm“) zur Behandlung der Anurie und der Herzinsuffizienz (Asthma cardiale), mit der Maßgabe, „er soll aber nicht zu oft wiederholt werden.“ Auch Tinsley Randolph Harrison empfahl 1958 in seinem Standardwerk die Venae sectio mit Aderlass beim Lungenödem und beim Cor pulmonale.
Beim Lungenödem „kann ein Aderlaß lebensrettende Wirkung haben.“ Die Therapie der Anurie bei der Nephritis sei „durch einen reichlichen Aderlaß (bei kräftigen Personen mindestens 500 ccm) zu unterstützen.“ Zur Behandlung der Herzinsuffizienz wurde 1940 der Aderlass angeraten, um die Viskosität des Blutes zu verkleinern und um den Blutdruck zu senken. Bei der arteriellen Hypertonie mit Oligurie oder Anurie „ist nur eine Behandlung ohne jede Einschränkung angezeigt: Der Aderlaß. Man muß kräftig zur Ader lassen.“
„Blutentziehungen durch Aderlaß, die früher in der Behandlung zahlreicher Erkrankungen eine wichtige Rolle spielten, waren eine Zeitlang nahezu ganz verlassen worden. Neuerdings wendet man sie wieder häufig, manchmal mit überraschend gutem Erfolge, an.“
Rückblick und Ausblick
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Mit dem Aderlass verbundene therapeutische Konzepte zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben bis ins 21. Jahrhundert überlebt. Die im 18. Jahrhundert durch Albertini, Valsalva und Corvisart eingeführte Aderlassbehandlung der beginnenden Herzinsuffizienz (der „aktiven Aneurismen des Herzens“) ist heute durch die Verordnung von Thiaziddiuretika ersetzt, wodurch an das hydraulikbasierte Therapiekonzept des 18. Jahrhunderts angeknüpft wird: Durch Verminderung des Blutvolumens (und durch Senkung des Blutdrucks) soll u. a. die Ausbildung einer Herzinsuffizienz verhindert werden.
Aderlass und Akupunktur
China
In der traditionellen chinesischen Medizin wird therapeutische Blutentnahme als „Trakt-Stechen“ (luòcì 絡刺) im Rahmen der Akupunktur eingesetzt. Dabei wird nach dem Grundprinzip der „Revulsion“ behandelt, das heißt, die therapeutische Einwirkung findet weit entfernt vom Krankheitsort statt und das „verdorbene Blut“ (yūxuè 瘀血) wird nur tropfenweise aus den Kapillaren entfernt. Zwei Beispiele:
- Bei der Behandlung von Lendenschmerzen werden oberflächliche Venen in der Kniekehle zur Entnahme von geringen Blutmengen eröffnet.
- Zur Behandlung von beginnenden Halsschmerzen wird am inneren Nagelrand des Zeigefingers mit einer kleinen Nadel ein Stich angebracht, durch den einige Tropfen Blut entnommen werden.
Die Quellen legen die Vermutung nahe, dass das „Trakt-Stechen zur Blutentnahme“ älter als die Therapieform ist, welche wir heute Akupunktur nennen.
Europa 17. bis 19. Jahrhundert
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Akupunktur in Europa besonders durch zwei Ärzte der Niederländischen Ostindien-Kompanie bekannt gemacht: Willem ten Rhijne und Engelbert Kaempfer. Es lag nahe, dass sie dieses für sie neue Therapieverfahren mit dem ihnen aus Europa vertrauten Aderlass verglichen. Die als Leitbahnen (jīngluò) bezeichneten Verbindungslinien der Akupunkturpunkte verglichen sie mit den ihnen bekannten Blutgefäßen. Bei der Beurteilung des Wirkungsmechanismus der Akupunktur schwankten sie zwischen „derivativer“ Wirkung (ten Rhijne) und „revulsiver“ Wirkung (Kaempfer).
In die europäische Praxis wurde die Akupunktur erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den französischen Arzt Louis Berlioz eingeführt. Über seine seit 1810 mit diesem Therapiemittel gesammelten Erfahrungen berichtete er 1816 in einer Denkschrift über chronische Krankheiten, den Aderlass und die Akupunktur. Ab 1819 – schwerpunktmäßig um 1825 unter Jules Cloquet – ausklingend in den 1830er Jahren – wurde die Akupunktur in Frankreich zu einer häufig angewendeten Therapieform. Gleichzeitig wurden der Aderlass und die Behandlung mit Blutegeln durch François Broussais und seine Schüler exzessiv betrieben.
In der Regel wurde die Akupunktur in dieser frühen europäischen Praxis als „derivativ“ wirkendes Verfahren verstanden, d. h., es wurden Punkte in der Nähe des Krankheitssitzes mit großer Stichtiefe und langer Verweildauer der Nadeln behandelt. Einzig der Pariser Augenarzt Antoine Pierre Demours verwendete ein „revulsiv“ wirkendes Verfahren, das er von der europäischen Behandlung von Augenerkrankungen durch das Haarseil ableitete.
Aderlass in Japan
Stimuliert durch den von Ärzten der Niederländischen Ostindien-Kompanie vorgestellten und an Europäern in Japan praktizierten Aderlass, griffen Ärzte der im 18. Jahrhundert aufgekommenen „Schule der alten Praxis“ (ko-ihōha) das bereits in den klassischen chinesischen Schriften beschriebene „Trakt-Stechen“ (shiraku, 刺絡) erneut auf. Eigentlich wurden dabei an Kapillargefäßen und einigen Stellen an den Finger- und Fußnägeln wenige Tropfen „verdorbenen Blutes“ (oketsu, 瘀血) entnommen. Nunmehr aber nahmen Pioniere wie der Hofarzt des Tenno, Ogino Gengai, in Fällen, in denen sofortige Maßnahmen zur Rettung des Patienten nötig waren, Mengen von einer Teeschale ab. Ogino, der kein Anhänger der „Holland-Studien“ (Rangaku) war, schrieb hierzu ein einflussreiches „Buch über das Traktstechen“ (Shiraku-hen, 1771), in dem er westliche Techniken und traditionelle Krankheitskonzepte kombiniert. Seit 1994 widmet sich eine wissenschaftliche Gesellschaft (Nihon Shiraku Gakkai, Japan Association for Shiraku Acupuncture) der Modernisierung und Verbreitung dieses Ansatzes.
Aderlass in der ayurvedischen Medizin
Die ayurvedische Medizin kannte den Aderlass ebenfalls, wie in der Sushruta-Samhitâ (Buch III, Kapitel 8) dargestellt ist. So wurden Aderlässe beispielsweise bei der Behandlung von „Blut-entstandenen“ Geschwüren eingesetzt.
Unfreiwilliger Aderlass
„… do wardt dem Seneca von Nerone geſagt das er imſelbs einen tod erwelet. do Seneca den willen Neronis erkennet begeret er das er in ein lawes waſſer geſetzt vnd ime alle adern geoeffent werden ſolten bis ime der gaiſt entgienge. maynende das es gar eins ſueß geſlecht des todts wer. alſo von eroffnung der adern zeſterben. vnd alſo endet er ſein leben …“
Aulus Gellius berichtete in seinen Noctes Atticae, dass der Aderlass eine der schmachvollsten Strafen bedeutete, zu der die römischen Soldaten verurteilt werden konnten. Auch noch im Tristan des Gottfried von Straßburg wird ein unfreiwilliger Aderlass erwähnt.
Siehe auch
- Unblutiger Aderlass als medizinische Maßnahme bei Lungenödem aufgrund akuter Linksherzinsuffizienz
- Medizinischer Blutegel
- Blutegelbehandlung
- Schröpfen
- Blutentnahme
- Venenstauer
- Homo signorum
Literatur
- Antoine Louis, Louis de Jaucourt: Saignée. In: Denis Diderot: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Band 14, 1751, S. 501–516 (Digitalisat).
- Franz Xaver Mezler: Versuch einer Geschichte des Aderlasses. Wohler, Ulm 1793 (Digitalisat).
- Josef Bauer: Geschichte der Aderlässe. 2. Auflage. E. H. Gummi, München 1870 (Digitalisat); um einen Namensweiser erweiterter Neudruck ebenda 1966.
- Karl Sudhoff: Laßtafelkunst in Drucken des 15. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte der Medizin I, 1907, S. 219–288; Textarchiv – Internet Archive.
- Karl Sudhoff: Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter, graphische und textliche Untersuchungen in mittelalterlichen Handschriften. J. A. Barth, Leipzig 1914–1918. Band 1 (1914) (Digitalisat). Darin S. 144–197: Merkbilder und Merkbildtexte für die Aderlaßstellenwahl bei den Erkrankungen der einzelnen Körperorgane (Digitalisat); S. 198–219: Lehr- und Merkfiguren zur Veranschaulichung des Einflusses der Tierkreisgestirne auf den Menschenkörper (Digitalisat).
- Arturo Castiglioni: Der Aderlaß. In: Ciba-Zeitschrift. Band 66, Nr. 6, Wehr / Baden 1954, S. 2186–2216.
- Peter Eichenberger: Johann Jakob Wepfer und seine Einstellung zum Aderlasse. Ein Briefentwurf an Georg Frank von Frankenau. In: Gesnerus, Band 24 (1967) S. 108–134 (Digitalisat).
- Erwin Heinz Ackerknecht: Therapie. Von den Primitiven bis zum 20. Jahrhundert. Enke, Stuttgart 1970, ISBN 3-432-01621-2.
- Hans Habernickel: Der Aderlaßabschnitt des Codex Palatinus Germanicus 558. Quellenkritische und sprachliche Untersuchungen zu einem bairischen „Aderlaßbüchlein“ des Spätmittelalters. Philosophische Dissertation Nijmwegen 1977.
- Gundolf Keil: Aderlaß. In: Lexikon des Mittelalters. Band 1, 1977, Sp. 150–151.
- Friedrich Lenhardt: Utilitas Phlebotomiae: Zu einer Quelle des Kranewitber-Traktats. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 1, 1983, S. 37–52.
- Ortrun Riha: Der Aderlaß in der mittelalterlichen Medizin. In: Medizin in Gesellschaft und Geschichte 8, 1989 (veröffentlicht 1991), S. 93–118.
- Konrad Goehl, Johannes Gottfried Mayer, Gundolf Keil: Der Aderlaßmann aus Michelstadt – Ein Plakat aus dem Mittelalter. In: Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Bewahren und Erforschen. Beiträge aus der Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek Michelstadt, Festgabe für Kurt Hans Staub zum 70. Geburtstag). Michelstadt 2003, S. 56–74.
- Gundolf Keil: Phlebotomie (Aderlaß). In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1155.
- Friedrich Lenhardt, Gundolf Keil: Lob des Aderlasses. Laus phlebotomiae, Utilitas phlebotomiae und De minutionis utilitate. In: Verfasserlexikon. 2. Auflage. Band 5 (2010), Spalte 862–865.
- Holger Schmid-Schönbein: Hilfe durch modernen Aderlaß. In: Bild der Wissenschaft. 2, 1982, S. 40–51.
Weblinks
- Aderlass in der mittelalterlichen Medizin
- Aderlass-Lanzette: 3D-Modell im Kulturportal bavarikon
- Aderlaß. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 1, Bibliographisches Institut, Leipzig/Wien 1905, S. 107–108.