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Anurie
Klassifikation nach ICD-10 | |
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R34 | Anurie |
N20.9 | Anurie durch Stein |
T37.0 | Anurie durch Überdosis von Sulfonamiden |
O08.4 | Anurie nach Abort, Extrauteringravidität oder Molenschwangerschaft |
N99.0 | Anurie nach medizinischen Maßnahmen |
T79.5 | traumatische Anurie |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Als Anurie bezeichnet man beim erwachsenen Menschen eine Harnproduktion (Alpha privativum, griechisch οὖρα oúra „Harn“) von weniger als 100 ml in 24 Stunden; in der Kinderheilkunde sowie auch in der Tiermedizin gelten (je nach Alter, Größe und Spezies) andere Volumina beziehungsweise Harnflussraten (→ Uroflowmetrie). Es wird die echte, durch eine Nierenschädigung bedingte, renale Anurie von einer prärenal bedingten sowie von einer – bei Verschluss der ableitenden Harnwege vorliegenden – falschen, postrenal bedingten, Anurie unterschieden. Diese falsche Anurie heißt auch Harnsperre, Harnverhalt, Harnverhaltung oder Ischurie (Ischuria).
Allgemein sprach man früher von einem Nierenblock, von einer Harnverstopfung, von einer Urinverhaltung, vom Versiegen der Harnabsonderung, von einer mangelhaften Harnabsonderung, von einer „Verhinderung des Harnabflusses“, von einer aufgehobenen Harnsecretion, von einer „mangelnden Harnexcretion“ oder auch kurz von „Harnmangel“ oder „Nichtharnen“. Die Duden-Redaktion hat „das Versagen der Harnausscheidung“ und die „fehlende Urinausscheidung“ korrigierend um das „Versagen der Harnproduktion“ ergänzt.
In völliger Verkennung der pathophysiologischen Zusammenhänge wurde noch 1963 in einem Lehrbuch über Notfälle in der inneren Medizin die Anurie (mit einer Dauer von bis zu zwölf Tagen) mit einer „akuten tubulären Nieren-Insuffizienz verschiedenartiger Ätiologie“ erklärt. Die Anurie beruht meistens auf einer Überfunktion der Tubuli und nicht auf einer Unterfunktion der Glomeruli. Die Anurie war früher entweder vorübergehend oder letal. So erwähnte Albert Eulenburg 1885 einen achtjährigen Jungen mit einer 25-tägigen Anurie mit Heilung.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Problemstellung
Das Problem der anurischen Niere konnte lange nicht abschließend gelöst werden. Ungefähr seit 1965 wird nach umfangreichen Forschungen (auch von François Reubi) wohl nicht mehr an der fast „totalen Rückresorption des Glomerulumfiltrates“ in den Tubuli (unabhängig von der glomerulären Filtration) gezweifelt. Diese Aussage gilt (bis zum Beweis des Gegenteils bei völliger Zerstörung einer Niere) sowohl für die einseitige wie auch für die doppelseitige Anurie. Trotzdem ist diese Erkenntnis (auf der Basis der Filtrations-Rückresorptions-Theorie von Carl Ludwig und Arthur Robertson Cushny) noch nicht allgemeine Lehrmeinung.
So wird in einem aktuellen Standardwerk dieses Problem mit keiner Silbe erwähnt; das Wort Anurie findet sich nur einmal (beim akuten Nierenversagen). Auch in einem anderen Lehrbuch wird diese Fragestellung nicht thematisiert; auch hier findet sich die Anurie nur einmal (bei der Medikamentendosierung während einer Anurie). Im Standardwerk Harrisons Innere Medizin wird die Tubulusnekrose als eine mögliche Ursache der Anurie erwähnt, ohne auf die gegenteilig wirkende erhöhte tubuläre Rückresorption einzugehen. Im The Merck Manual werden nur prärenale und postrenale Ursachen der Anurie erwähnt, nicht jedoch die gesteigerte Tubulusfunktion. Auch Gerd Herold nennt nur die Definition „Anurie: < 100 ml Harn/d“, ohne auf Entstehung und Bedeutung einzugehen. Ein anderes aktuelles Lehrbuch nennt ohne Erklärung die Anurie als Leitsymptom des Nierenversagens.
Ursachen
Ernst Lauda beschrieb 1951 sechs denkbare Ursachen der Anurie. Als Quelle nennt er Leopold Lichtwitz.
- Das vollständige Fehlen beider Nieren („arenale Anurie“) verursacht immer eine absolute Anurie.
- Die „vollständige Aufhebung des Wassersekretionsvermögens beider Nieren (renale Anurie im engeren Sinne des Wortes) im Endstadium chronischer Nephritiden.“
- Die mechanische Verlegung des Harnabflusses. Dazu nannte er zahlreiche Beispiele. Eine einseitige Verlegung führe zur reflektorischen Anurie auch der anderen Niere.
- Die „reflektorische Anurie auch ohne mechanische Hindernisse bei Reizzuständen in den abführenden Harnwegen“ zum Beispiel bei Spasmen der Ureteren.
- Eine „Wasserverarmung“ oder ein schwerer „Wassermangel bei starken Durchfällen“ zum Beispiel bei der Cholera verursachen ebenfalls eine Anurie.
- „Mit der Diagnose einer hysterischen Anurie – ich habe sie nie gesehen – sei man jedenfalls sehr vorsichtig.“
Leopold Lichtwitz hatte 1934 noch eine weitere Ursachen erwähnt:
- Die Aufhebung des Blutzuflusses zu beiden Nieren durch Thrombose oder Kompression beider Nierenarterien oder beider Nierenvenen verursacht eine Anurie.
Heute werden die Ursachen der Anurie eingeteilt in
- prärenale Ursachen,
- renale Ursachen und
- postrenale Ursachen.
Thurau-Hypothese
Volkmar Heinze beschrieb 1976 ausführlich die falsche Thurau-Hypothese mit dem unterstellten Thurau-Mechanismus aus dem Jahre 1971 als widersprüchliches Erklärungsmodell für die Anurie: Nephrotoxine schädigen die Nieren und bewirken eine Tubulusläsion und einen Glomerulusschaden. Das „energetische Potential“ des Tubulusapparates verschlechtere sich. Die glomeruläre Filtration werde „herabgesetzt oder sogar völlig gestoppt.“ So komme es zur „Oliganurie“. Dann werden die Tubulusepithelien repariert mit Wiederherstellung ihrer „Reabsorptionsfähigkeit“. Die glomeruläre Filtration werde wieder freigegeben. Heinze ließ offen, wie die „nur geringfügigen pathologisch-anatomischen Veränderungen“ und das „fehlende morphologische Korrelat“ mit dieser spekulativen Hypothese in Übereinstimmung gebracht werden können. Bei betroffenen Patienten beschrieb er intakte Glomerula und unveränderte Tubuli; „die akute renale Parenchymschädigung fehlt“. Heinze geht auf Reubis Darstellungen nicht ein, obwohl er ihn dreimal im Literaturverzeichnis erwähnt.
Tubulusfunktion
Deutlich plausibler als Klaus Thuraus Hypothese erscheint die obige Darstellung von François Reubi (ebenfalls aus dem Jahre 1971 im selben Buch wie Thuraus Arbeit): Die Glomeruli und die Tubuli werden durch die körpereigenen Nephrotoxine kaum geschädigt. Die Tubuli erhöhen (unabhängig von den Glomeruli) kompensatorisch ihre Rückresorptionsquote. So kommt es zur Anurie oder zur Oligurie (zusammengefasst als Oliganurie).
Therapie (veraltet!)
In völliger Verkennung der vom Autor selbst zuvor richtig beschriebenen Pathophysiologie empfahl Hans Julius Wolf noch 1942 und 1957 rasches Handeln: „Aderlaß, Kurzwellenbestrahlung, Röntgenstrahlung, paravertebrale Injektionen, Dekapsulation“ und einen „Wasserstoß in Form von 1500 ml Teetrinken in 20 Minuten.“
Pathophysiologie
Voraussetzung für eine renal bedingte Anurie ist nicht etwa ein Rückgang der glomerulären Filtration auf null. Vielmehr wird die Anurie durch einen Anstieg der tubulären Rückresorption von durchschnittlich etwa 99 % um nur einen Prozentpunkt auf 100 % erreicht. Die harnpflichtigen Stoffe (wie zum Beispiel Kreatinin oder auch Cystatin C) werden weiter produziert und können nicht mehr über die Nieren ausgeschieden werden; sie werden also zusammen mit dem Plasmawasser vollständig rückresorbiert. Kreatininbasierte Schätzformeln für die GFR können also keine zuverlässigen Werte liefern. Irrtümlich würden mit solchen Formeln zu kleine glomeruläre Filtrationsraten berechnet werden; denn alle diese Formeln setzen voraus, dass Kreatinin nicht (oder nur geringfügig) tubulär resorbiert wird. Ebenso können die Clearance-Formeln bei einer Anurie wegen des fehlenden Urins nicht verwendet werden.
Der Anstieg der tubulären Rückresorptionsquote kann pathophysiologisch als beabsichtigte und notwendige Verhinderung eines weiteren Flüssigkeitsverlustes im Schock oder bei körperlicher Extrembelastung verstanden werden. Bis zum Beweis des Gegenteils ist jede Anurie also eine erforderliche Kompensation des Herz-Kreislauf-Systems. Im Schock kann die tatsächliche GFR sogar parallel zum HZV ansteigen. Im Kreislaufschock muss nach den kardiologischen Leitlinien das Herzzeitvolumen (HZV, englisch CO für den cardiac output) bestimmt werden; bei Nierengesunden beträgt die tatsächliche GFR etwa zwei Prozent des HZV.
Ansonsten kommen beim Verdacht auf eine schwere beiderseitige Nierenkrankheit bei einer Anurie in der Intensivmedizin nur nuklearmedizinische Bestimmungen der GFR in Frage; hier besteht allerdings die Gefahr eines zusätzlichen iatrogenen kontrastmittelinduzierten Nierenversagens. Aber bei einer Anurie bekommt man hierbei als Ergebnis auch nur das Filtrationsverhältnis der beiden einzelnen Nieren zueinander mit der Summe 100 % ohne Angabe der tatsächlichen GFR.
Die extrarenale Clearance einer jeden teilweise harnpflichtigen Substanz entspricht bei der Anurie der totalen Plasma-Clearance.