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Friedreich-Ataxie
Klassifikation nach ICD-10 | |
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G11.1 | Früh beginnende zerebellare Ataxie - Friedreich-Ataxie (autosomal-rezessiv) |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Die Friedreich-Ataxie (Morbus Friedreich) ist eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Erste Symptome zeigen sich meist vor dem 25. Lebensjahr. Die Krankheit verläuft progredient, wobei ihre Symptomatik über Jahre stabil bleiben kann. Diese umfasst vielfältige neurologische, psychische, orthopädische und kardiologische Symptome.
Die Friedreich-Ataxie wurde nach dem deutschen Pathologen Nicolaus Friedreich benannt, der die Krankheit erstmals 1863 in Heidelberg dokumentierte.
Inhaltsverzeichnis
Epidemiologie
In Mitteleuropa tritt die Friedreich-Ataxie bei durchschnittlich einem von 50.000 Neugeborenen auf. Sie ist vergleichsweise häufig und macht etwa die Hälfte aller Heredoataxien (erblichen Formen der Ataxie) aus. Schätzungen zufolge leben in der Bundesrepublik Deutschland rund 1.500 Menschen mit Friedreich-Ataxie.
Die Friedreich-Ataxie zählt zu den autosomal-rezessiven Erbkrankheiten. Entsprechend liegt die Wahrscheinlichkeit bei 25 Prozent, dass ein Kind zweier heterozygoter Anlageträger die Krankheit erbt. Die Häufigkeit heterozygoter Anlageträger wird auf 1:60 bis 1:120 eingeschätzt.
Genetik
Die Friedreich-Ataxie wird autosomal-rezessiv vererbt. Das dazugehörige Gen wurde erstmals 1988 durch die Arbeitsgruppe um Susan Chamberlain lokalisiert. Seit 1996 ist eine molekular-genetische Untersuchung möglich.
Das Gen FXN liegt auf Chromosom 9 (Genlocus: 9q13-21.1) und codiert für das in den Mitochondrien lokalisierte Protein Frataxin. Andere Genloci können bei Mutation die Symptomatik der Ataxie imitieren, beispielsweise das Gen FRDA2 (Genlocus: 9p23-p11).
Im Bereich des ersten Introns des Gens liegt die Repeat-Expansion eines GAA-Tripletts vor, das ab 82 Wiederholungen die Krankheit hervorruft. Häufungen zwischen 40 und 82 Kopien (Prämutationen) tragen die Gefahr einer Friedreich-Ataxie in folgenden Generationen. Die durch die Expansion verlängerte prä-mRNA verhindert ein effektives Splicing, das Protein kann nicht korrekt hergestellt werden.
Weitere Mutationen des Gens sind möglich – beispielsweise eine Punktmutation –, die Dokumentation ihrer Häufigkeit und die Wahrscheinlichkeit, mit der sie die Krankheit auslösen, ist aber umfangreich.
Ursache
Aufgrund verschiedener Studien wird angenommen, dass die Friedreich-Ataxie eine Folge oxidativen Stresses ist, der durch Eisen-Überschuss ausgelöst wird. Durch Beobachtung verschiedener Hefezellen lässt sich bestätigen, dass der hier wirkende Mechanismus bereits früh-evolutionär auftritt. Zudem wurden bei den Hefen die gleichen Mutationen nachgewiesen. Es lässt sich ein erhöhter Eisen-Spiegel feststellen, eine Muskel-Biopsie ergibt histologisch einen erhöhten Eisen-Anteil.
Das Protein Frataxin steuert den Eisen-Stoffwechsel innerhalb der Mitochondrien der Zelle. Infolge der Mutation bei den Erkrankten ist das Frataxin nicht in der Lage, den Vorgang in ausreichendem Maße zu bewältigen. Innerhalb der Mitochondrien bilden sich durch freie Eisenionen reaktive Sauerstoffspezies (ROS).
Pathologie
Die Friedreich-Ataxie ist durch eine progressive Sklerose der Hinterstrangbahnen und der Leitungsbahnen zwischen Rückenmark und Kleinhirn gekennzeichnet. Daneben können Degenerationen der Pyramidenbahn und der Kleinhirnrinde sowie von Herzmuskelzellen vorliegen.
Symptomatik
Die Friedreich-Ataxie manifestiert sich üblicherweise sehr früh im Leben. Die Krankheit beginnt harmlos und setzt sich progredient fort; sie wird oft jahrelang nicht erkannt. Schon früh tritt eine Ataxie und einhergehend Störungen der Sensibilität auf, die – wenn überhaupt – unbewusst wahrgenommen werden; Eltern berichten hier häufig über einen auffälligen „Pinguin-Gang“ als auffälligstes Symptom.
Das Spektrum der Symptome umfasst:
- Störungen des Nervensystems (neurologische Symptome): Ataxie, Verlust von Oberflächen- und Tiefensensibilität, Dysarthrie, Spastiken, Nystagmus, Schluckbeschwerden, Harnblasen- und Mastdarmentleerungsstörungen
- Störungen des Bewegungsapparates (orthopädische Symptome): Skoliose in 90 % der Betroffenen und Kyphoseskoliose in 60 %, Pes cavus (Hohlfuß, auch „Friedreich-Fuß“ genannt), Friedreich-Hand
- Psychiatrische Auffälligkeiten: präsenile Demenz, generalisierte Wesensveränderungen
- Sonstige Symptome wie eine hypertrophe Kardiomyopathie, Diabetes mellitus, Einschränkungen des Hörvermögens, Sehnerv-Atrophie
Für Menschen mit Friedreich-Ataxie ist häufig die Kardiomyopathie lebenslimitierend.
Die eindeutige Diagnose anhand dieser Symptome gestaltet sich schwierig, weil die oben genannte Befundkonstellation mit anderen neurologischen Störungen verwechselt werden kann. Oft bietet eine molekulargenetische Untersuchung letzte Sicherheit. An zusätzlichen Untersuchungen sind deshalb heute invasive Eingriffe wie Muskelbiopsie oder Lumbalpunktion entbehrlich geworden. Im Zweifel sollten laborchemisch jedoch durch eine Blutentnahme die Muskel- und Leberenzyme und zur Abgrenzung der Vitamin-E-Mangel-Ataxie und von der Ataxia teleangiectatica der Vitamin-E-Spiegel und das Alpha-1-Fetoprotein (AFP) im Blutserum bestimmt werden.
Laufende Symptomatik
Durch die laufende Beobachtung können ggf. frühzeitige Therapien begonnen werden und die Verschlechterung dieser Folgezustände verhindern. Empfohlen werden deswegen
- laufende neurologische Betreuung,
- jährliche kardiologische und internistische Kontrollen,
- wenigstens zweijährige ophthalmologische Kontrollen,
- Kontrollen bei weiteren Fachärzten bei Bedarf, jedoch dann unverzüglich, und
- regelmäßige Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation.
Denkvermögen, präsenile Demenz und Wesensveränderungen
Die Verschlechterung des Denkvermögens, das Auftreten einer präsenilen Demenz und zunehmende Wesensveränderungen gehören ausdrücklich nicht zu den primären Symptomen.
Schleichende Entwicklungen können durch die schwierige psychologische Situation und soziale Ausgrenzung begünstigt werden.
Differentialdiagnose
Abzugrenzen ist u. a. die Vitamin-E-Mangel-Ataxie, das Charlevoix-Saguenay-Syndrom und das SANDO-Syndrom.
Medikamentöse Therapie
Verringerung des oxidativen Stresses oder Verbesserung der mitochondrialen Funktion
Durch das frühe Abfangen der entstandenen freien Radikale wird der oxidative Stress verringert und die mitochondriale Funktion verbessert. Insoweit ist eine palliative Therapie mit Radikalfängern vielversprechend und im Labor bestätigt.
- Omaveloxolon: Das von Reata Pharmaceuticals entwickelte synthetische Oleanan-Triterpenoid Omaveloxolon wirkt über den Nrf2 (Nuclear factor (Erythroid-derived 2) related factor 2). Es aktiviert intrazelluläre und mitochondriale antioxidative Signalwege sowie weitere Signalwege, die die mitochondriale Biogenese (bspw. PGC-1α, peroxisome proliferator-activated receptor-gamma coactivator 1-alpha) und den Zellstoffwechsel weiter verbessern.
- Im Februar 2023 wurde Omaveloxon in den USA unter dem Namen Skyclarys zugelassen zur Behandlung der Friedreich-Ataxie bei Patienten ab 16 Jahren. Es ist die erste zugelassenen medikamentöse Therapie.
- Vatichinon (EPI-743, PTC-743) ist ein experimenteller Wirkstoff und wird von PTC Therapeutics für verschiedene Erkrankungen entwickelt, darunter die Friedreich-Ataxie.
- Coenzym Q10, CoQ10 oder kurz Q10 ist ein kleines lipophiles Molekül mit antioxidativer Wirkung. Ähnlich wie bei seinem Analogon Idebenon ist der therapeutische Nutzen von Q10 zur Besserung der Friedreich-Ataxie nicht endgültig erwiesen und die Studienlage den Energiestoffwechsel der Herz- und Skelettmuskulatur betreffend ist uneinheitlich. Es wird jedoch geschätzt, dass trotz der fehlenden Evidenz mindestens 50 % der FA-Patienten Q10-Präparate einnehmen.
- Idebenon: Das Coenzym Q10-Analogon Idebenon war von 2004 bis 2011 in der Schweiz befristet zugelassen zur Behandlung der manifesten nicht dilatativen Kardiomyopathie bei Patienten mit Friedreich-Ataxie, um schon eine Therapie verfügbar machen zu können, bevor die für eine ordentliche Zulassung erforderliche Datenbasis vorlag. Weitere Studien ergaben jedoch keine eindeutigen Verbesserungen der Symptomatik bei Erkrankten im Vergleich zu Kontrollpersonen. Insgesamt bewertete die Schweizer Arznemmittelbehörde das Nutzen-Risiko-Verhältnis negativ.
- EPO bzw. EPO-Analoga: von Erythropoetin war bekannt, dass es nicht nur die Bildung von Erythrozyten (rote Blutkörperchen) anregt, sondern auch eine neuroprotektive Wirkung hat. Zur Umgehung der übermäßigen Bildung roter Blutkörperchen und der Vorbeugung vor Autoimmunreaktionen wurde das Protein chemisch modifiziert (carbamoyliertes Erythropoetin, cEPO). Mitte 2011 stellte der Entwickler, die dänische Firma Lundbeck, die Entwicklung von cEPO zur Behandlung der Friedreich-Ataxie nach Abschluss der Klinischen Phase IIa aufgrund nicht aussichtsreicher Studienergebnisse ein.
Histon-Deacetylase-Inhibitoren oder Erhöhung der Frataxin-Produktion
Es gibt Hinweise darauf, dass durch die vorliegende Mutation das Frataxin zwar richtig und in ausreichender Menge gebildet, aber während der Proteinfaltung denaturiert wird. Dann läge eine Unterbrechung der Denaturierung durch Histon-Deacetylases-Inhibitoren (HDACI) oder eine entsprechende Erhöhung der Frataxin-Produktion nahe.
- RG-2833 (RGFP-109; N-{6-[(2-Aminophenyl)amino]-6-oxohexyl}-4-methylbenzamid; Repligen Corporation) ist ein Histon-Deacetylase-(HDAC)-Inhibitor der Klasse 1, der die Transkription verbessern – also die Frataxin-Produktion erhöhen und dadurch die Ursache der Friedreich-Ataxie in ihrer Wirkung vermindern – soll.
Alternative Therapiestrategien
Alternative Therapiestrategien befassen sich derzeit mit der Unterstützung der Frataxinwirkung durch Stammzelltransplantation, Genübertragung oder den Ersatz von Frataxin.
Weitere Therapien
Regelmäßige physikalische Anwendungen helfen, die orthopädischen Probleme zu mildern sowie einer Atrophie der Muskeln entgegenzuwirken. Weiterführende Ergotherapie wird empfohlen.
Zur Verbesserung der Aussprache, Schluck- und Atemfunktionen sollte eine logopädische Therapie erfolgen.
Die Verwendung von Gehhilfen dient zur Verbesserung der Lebensqualität.
Weitergehende Symptome wie Kardiomyopathie, Hohlfuß oder Kyphoskoliose sollten nach fachärztlicher Maßgabe behandelt werden. Bei chirurgischen Therapien empfiehlt sich die Einholung einer Zweitmeinung.
Geschichte
Erstmals dokumentiert wurde die Friedreich-Ataxie 1863 in Heidelberg durch den Würzburger Nicolaus Friedreich, nach dem die Krankheit infolge benannt ist. Die Ataxie (griechisch ataxia, Unordnung) beschreibt allgemein unkoordinierte Bewegung der Muskeln und Gleichgewichtsstörungen. Hier tritt das Symptom so in den Vordergrund, dass die Erkrankung danach benannt ist. Mit seinen klinischen Untersuchungen hat Nikolaus Friedreich die Krankheit aus der bis dahin allgemein gefassten Gruppe der ataktischen Erkrankungen hervorgehoben.
Literatur
- R. M. Payne, G. R. Wagner: Cardiomyopathy in Friedreich ataxia: clinical findings and research. In: Journal of child neurology. Band 27, Nummer 9, September 2012, S. 1179–1186, ISSN 1708-8283. doi:10.1177/0883073812448535. PMID 22764179.
- M. B. Delatycki, L. A. Corben: Clinical features of Friedreich ataxia. In: Journal of child neurology. Band 27, Nummer 9, September 2012, S. 1133–1137, ISSN 1708-8283. doi:10.1177/0883073812448230. PMID 22752493.
- R. M. Payne, G. R. Wagner: Cardiomyopathy in Friedreich ataxia: clinical findings and research. In: Journal of child neurology. Band 27, Nummer 9, September 2012, S. 1179–1186, ISSN 1708-8283. doi:10.1177/0883073812448535. PMID 22764179.
- R. B. Wilson: Therapeutic developments in Friedreich ataxia. In: Journal of child neurology. Band 27, Nummer 9, September 2012, S. 1212–1216, ISSN 1708-8283. doi:10.1177/0883073812449691. PMID 22791549.
- K. W. Brigatti, E. C. Deutsch, D. R. Lynch, J. M. Farmer: Novel diagnostic paradigms for Friedreich ataxia. In: Journal of child neurology. Band 27, Nummer 9, September 2012, S. 1146–1151, ISSN 1708-8283. doi:10.1177/0883073812448440. PMID 22752491.
- A. H. Koeppen: Friedreich’s ataxia: pathology, pathogenesis, and molecular genetics. In: Journal of the neurological sciences. Band 303, Nummer 1–2, April 2011, S. 1–12, ISSN 1878-5883. doi:10.1016/j.jns.2011.01.010. PMID 21315377. PMC 3062632 (freier Volltext).
Weblinks
- Informationsseite der Schweizerischen Muskelgesellschaft (deutsch)
- Deutsche Heredo-Ataxie Gesellschaft e. V.
- Friedreich-Ataxie Förderverein e. V.
-
Website der Friedreich’s Ataxia Research Alliance (FARA), der amerikanischen und weltweit größten Forschungsorganisation für die Friedreich-Ataxie (englisch)
- Veröffentlichung der neuesten Forschungsergebnisse auf der Website der FARA (englisch)
- Skoliose bei Friedreich-Ataxie (syndromale Skoliose) – Tabellarische Referenzen zu Verlauf und Behandlung