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Justinianische Pest

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Justinianische Pest
Plaguet03.jpg
St. Sebastian betet für die Pestopfer
Daten
Krankheit Pest
Krankheitserreger Yersinia pestis
Beginn 541
Ende 770

Bei der Justinianischen Pest, seltener auch Pest des Justinian genannt, handelt es sich um eine zur Zeit des oströmischen Kaisers Justinian (527–565) ausgebrochene Pandemie, die erstmals 541 in Ägypten in den Gesichtskreis der Geschichtsschreiber trat, 542 Konstantinopel erreichte und sich bald darauf im gesamten spätantiken Mittelmeerraum verbreitete. Diese verheerende Pandemie trug infolge der Bevölkerungs- und Wirtschaftsverluste wohl indirekt zum Misserfolg der Restauratio imperii Justinians und dem Ende der Antike im 6. Jahrhundert bei. Sie gilt als die größte antike Epidemie zwischen Nord- und Nordwesteuropa, dem Mittelmeerraum und dem Sassanidenreich. Nachdem sie 544 im Oströmischen Reich für erloschen erklärt worden war, flackerte sie 577 wieder auf und blieb im Mittelmeerraum lange Zeit endemisch. Bis nach 770 kam es zu unregelmäßigen Ausbrüchen der Krankheit, der apokalyptische Ausmaße zugeschrieben wurden. Nach derzeitigem Forschungsstand handelte es sich bei der Seuche um die Pest. Wie gravierend die Folgen dieser Pandemie waren, ist Gegenstand einer Forschungsdebatte.

Quellenlage

Neben dem oströmischen (griechischen) Geschichtsschreiber Prokopios, der das erste Auftreten der Seuche in Konstantinopel miterlebte, sind die Kirchengeschichte des Euagrios, die Kirchengeschichte des Johannes von Ephesos, die Historien des Agathias von Myrina und die Weltchronik des Johannes Malalas die wichtigsten erzählenden Quellen für den ersten Ausbruch der Pandemie. Euagrios Scholastikos berichtet aus Antiochia von einem Ausbruch der Epidemie im Jahr 594, die für ihn den vierten Ausbruch seit demjenigen von 542 darstellte, jenem ersten Ausbruch, den er als Kind überlebt hatte.

Für die späteren Ausbrüche sind auch andere Quellen jenseits der oströmisch-byzantinischen greifbar, etwa arabische, die aber mit deutlich größerem zeitlichen Abstand entstanden sind. Sie berichten über einen Ausbruch für das Jahr 628, in dessen Zusammenhang womöglich der damalige Sassanidenkönig Kavadh II. ums Leben kam. Von 628 an wütete die Seuche in Syrien und im sassanidischen Mesopotamien, wo ihr vor allem in Ktesiphon zahlreiche Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Wohl 638 begegneten die muslimischen Invasoren erstmals selbst der Pest, einen Ausbruch, den sie nach dem Ort dieser Erstbegegnung Pest von Amwas nannten.

Der Lexikograph al-Asmai († 862) kompilierte als erster eine Liste der Pestausbrüche. Der Historiker, der unabhängig von al-Asmai, aber auf der Basis gemeinsamer Quellen arbeitete, lieferte einen ausführlichen Bericht über die Pest in Basra. Das Werk des al-Mubarrad († 899 oder 900), das nur aus Zusammenstellungen aus den 1360er Jahren bekannt ist, ist bezeichnend für die komplizierte Situation der arabischen Quellen, denn sie sind allesamt erst vergleichsweise spät, frühestens jedoch aus dem 9. Jahrhundert überliefert. Ihre Vorlagen hingegen sind verloren.

Die wichtigste literarische Quelle für Westeuropa ist Gregor von Tours, der den ersten Ausbruch der Seuche in Gallien als Kind erlebte. Er berichtet, wie die Pest 543 im Tal der Rhone grassierte. Sie habe die Region um Arles weitgehend entvölkert. Der Onkel des Verfassers, Bischof Gallus von Clermont, habe Gott um Verschonung gebeten, und tatsächlich wurde Clermont von der Pest verschont. Einer von Gallus’ Nachfolgern, Bischof Cautinus, hingegen erlebte, wie nicht mehr zählbare Menschenmassen der Pandemie zum Opfer fielen und dass man, angesichts fehlender Grabsteine und Särge, mehr als zehn Menschen in jedes Grab legen musste. In der Peterskirche wurden angeblich an einem einzigen Sonntag 300 Leichen gezählt. Auch Bischof Cautinus starb. Betroffen waren neben Clermont auch die Städte Lyon, Bourges, Chalon-sur-Saone und Dijon, aber auch Nantes. Möglicherweise erreichte die Pest von hier aus Cornwall und Irland. Reims und Trier wurden laut Gregor durch das Eingreifen von Heiligen verschont. Nach ihm brachte ein Schiff aus Hispanien die tödliche Krankheit (erneut) 588 nach Marseille. Nachdem die Pest dort grassiert hatte, verschwand sie nach zwei Monaten. Doch die Bewohner kamen zu früh zurück, denn die Heimkehrer wurden von einer neuen Welle getötet. Auch später wurde die Stadt noch mehrmals von der Epidemie schwer getroffen.

Der Engel auf der römischen Engelsburg steckt sein Schwert wieder in die Scheide, ein Symbol für das Ende der Pest im Jahr 590. Wohl schon im 13. Jahrhundert stand hier eine Statue, die 1554 durch ein Werk des Raffaello da Montelupo ersetzt wurde, dem wiederum die jetzige Skulptur von Peter Anton von Verschaffelt 1752 folgte.

Auch über Italien berichtet Gregor: Ein Gewährsmann namens Agiulf, der für Gregor in Rom Reliquien beschaffen sollte, habe ihm berichtet, wie im Januar 590 die Pest in Rom ausbrach, der Papst Pelagius II. zum Opfer fiel. Sein Nachfolger Gregor, genannt der Große, betete und veranlasste Bittprozessionen um Vergebung der Sünden, denn es war gängig, solcherlei Katastrophen als Strafe Gottes zu betrachten. Eine weitere Quelle zu Italien stellt Paulus Diaconus mit seiner Historia Langobardorum dar, die allerdings erst im 8. Jahrhundert entstand. Seine Quellen für das 6. Jahrhundert sind unbekannt. Er erwähnt vier Ausbrüche der Pest, davon den ersten für Ligurien 565. Ausdrücklich beschreibt er, wie massiv die Auswirkungen auch auf dem Lande gewesen seien: Die Dörfer waren demnach verlassen. Wie Gregor beschreibt Paulus den Ausbruch in Rom 590, dann einen 593 in Ravenna, Grado und auf Istrien. Schließlich beschreibt er für 680 einen schweren Ausbruch, der von Juli bis September Rom traf, aber auch Pavia.

Für den Ausbruch der Seuche im Jahr 745 machte der geistliche Chronist Theophanes Homologetes im Rahmen des byzantinischen Bilderstreits propagandistisch die Aktivitäten des Kaisers Konstantin V. verantwortlich.

Archäologische Belege und Kontroverse über die Opferzahlen

Viele Forscher folgen im Kern den Aussagen der Quellen über die katastrophalen Folgen der Seuche. In der Folge der Seuchenzüge seit Mai 541 reduzierte sich die Bevölkerung des Oströmischen Reiches demnach um die Hälfte, nach jüngeren Forschungen vielleicht um 20 bis 30 Prozent, andere gehen von einem Viertel bis der Hälfte aus.

Chris Wickham führte die Bevölkerungsverluste weniger auf die Epidemie als auf politisch-militärische Vorgänge zurück, zugleich beklagte er die Nachfrage nach apokalyptischen Erklärungsmustern und die zeitlich zu frühe Einordnung von erkennbar drastischen Bevölkerungsrückgängen vor allem in Regionen des Nahen Ostens.

Eine Revision dieser als „hysterische“ Übertreibungen bezeichneten, womöglich überschätzten Bevölkerungsverluste begann mit einem Aufsatz von Jean Durliat im Jahr 1987. Durliat bezweifelte als einer der ersten, dass die Justinianische Pest tatsächlich die gewaltigen Ausmaße hatte, die aus den schriftlichen Quellen herausgelesen worden waren. Er mutmaßte, dass die Pest in Wahrheit überwiegend ein städtisches Phänomen gewesen sei und dass das Land nur wenig davon betroffen war. Clive Foss, der den Verlauf für Syrien untersucht hatte, kam später zu ähnlichen Ergebnissen.

Massengräber lassen sich in der Tat kaum finden. Doch Untersuchungen an Inschriften aus Palästina, die Yoram Tsafrir und Gideon Foerster in Skythopolis durchführten, kamen zu dem Ergebnis, dass die Häufung von Grabinschriften aus der zweiten Jahreshälfte 541 „very striking“ sei, also „sehr auffällig“. Auch nahm die Bautätigkeit insofern ab, als es zwar noch zu An- und Umbauten kam, doch erschienen nach etwa 550 keine Bauinschriften mehr, die sich auf Neubauten ganzer Häuser bezogen. Nach 550 entstanden im syrischen Hauran zwar zahlreiche Dorfkirchen, was, in Analogie zum Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts, allerdings keine Aussage gestattet, denn auch in den Jahren ab 1347 entstanden, trotz gewaltiger Bevölkerungsverluste, kaum weniger Kirchen als in den Jahren zuvor. Wie gravierend die Verluste durch die Seuche waren, ist daher bis auf weiteres eine ungeklärte Frage. Seit 2019 plädierten Lee Mordechai und Merle Eisenberg in mehreren Publikationen erneut für die Annahme, die Bedeutung der Justinianischen Pest sei von antiken und modernen Historikern weit überschätzt worden, während insbesondere Mischa Meier und Peter Sarris eine Gegenposition vertreten und die Aussagen der zeitgenössischen Quellen ernster nehmen.

Ausbreitung der Seuche (541–544)

Von der Beulenpest verursachte Schwellungen (Beulen genannt) in der Leistenregion

Etwa 15, womöglich 17 Pestwellen lassen sich belegen. Betroffen waren von diesen Ausbrüchen die Länder des westlichen Mittelmeerraums, das rheinische Germanien und etwa zwei Drittel von Gallien und Hispanien sowie Gebiete im Osten wie Kleinasien, Syrien, Mesopotamien und Persien. Nördlich der Alpen erreichte die Justinianische Pest auch den Münchener Raum.

Nicht alle Länder waren gleich stark betroffen; häufig grassierte die Krankheit zwei oder drei Jahre in einem bestimmten Gebiet und schwächte sich dann wieder ab, wobei sie häufig mutierte. Zuerst soll die Krankheit dabei laut dem Zeitzeugen Prokop in Pelusium (Tell el-Farama) am Ostrand des Nildeltas aufgetreten sein, wohin sie wohl aus dem subsaharischen Afrika oder über Fernhändler aus Indien eingeschleppt worden war. Nach Johannes von Ephesus überlebten dort nur sieben Männer, dazu ein Knabe von zehn Jahren. Prokop zufolge breitete sich die Epidemie zunächst ostwärts nach Gaza und westwärts nach Alexandria, dann in ganz Ägypten und Palästina aus.

Im Frühjahr 542 erreichte sie die Kaiserresidenz Konstantinopel, die damals über 500.000 Einwohner zählte, noch im selben Jahr Antiochia, Illyrien, Tunesien, Spanien, schließlich 543 auch Atropatene, wo sie die Armee der Perser traf. Im selben Jahr brach sie in Italien, dem Maghreb und Gallien aus und breitete sich bis zum Rhein und auf die britischen Inseln aus. Nicht betroffen war anscheinend die arabische Halbinsel. Wie die meisten Autoren beschreibt Prokop die Symptome der Krankheit: Fieber, dem beulenartige Geschwüre in der Leistenregion, unter den Achseln und am Hals folgten. Auch Kaiser Justinian erkrankte, doch wundersame Heilungen durch die Heilkundigen Kosmas und Damian sollen ihm das Leben gerettet haben. Der Kaiser glaubte, seine Rettung gleich in vier Fällen dem Eingreifen Heiliger oder der Gottesmutter zu verdanken. Auch sein mächtiger Rivale, der Perserkönig Chosrau I., erkrankte 543, was zum Usurpationsversuch eines seiner Söhne geführt haben soll.

544 ließ Justinian zwar das Ende der Pestepidemie verkünden, doch brach sie 557 erneut aus, kehrte 570 abermals zurück und trat bis über die Mitte des 8. Jahrhunderts hinaus in etwa 15- bis 25-jährigem Rhythmus immer wieder in Erscheinung, bevor sie nach etwa 770 wieder verschwand. Als besonders verheerend galt der letzte große Ausbruch von 746 bis 748. Schon Agathias berichtete in seiner Fortsetzung von Prokops Geschichtswerk, wie die Krankheit, nachdem sie Konstantinopel verlassen und in verschiedenen Gebieten grassiert hatte, 558 in die Hauptstadt zurückkehrte. Auch er berichtete, dass die Befallenen unter Schwellungen litten und unter stetig steigendem Fieber starben. Einige hätten jedoch weder an Fieber noch Schmerz gelitten, sondern seien einfach tot umgefallen.

Anhand der Quellen, allen voran Prokop, gab es Argumente für die Hypothese, dass die Pest afrikanische Ursprünge hatte. Sowohl numismatische, juristische als auch papyrologische Quellen deuten auf eine Krise der kaiserlichen Finanzen hin, für die eine großflächige Entvölkerung die wahrscheinlichste Ursache war. Damit scheint die These, die Epidemie habe sich vornehmlich in den Städten ausgebreitet (siehe oben), widerlegt zu sein.

Klimageschichtliche Rahmenbedingungen und mögliche Auslöser

Eine Hypothese ging 2005 von der Übertragung der Krankheit, bei der es sich nicht um die eigentliche Pest gehandelt habe, durch große Fliegenschwärme aus, die in Intervallen das Reich heimgesucht hätten. Ihr Auftreten sei durch klimatische Änderungen ermöglicht worden. Diese Minderheitenmeinung hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt, zumal inzwischen so gut wie sicher ist, dass es sich bei der Seuche um die Beulenpest gehandelt hat (siehe unten), die nicht durch Fliegen übertragen werden kann.

Als gut denkbar gilt allerdings, dass eine Periode kühleren Klimas ab 535/536 eine Rolle gespielt haben mag. Diese gut belegte Kälteperiode von 535/536 bis etwa 550, die in Teilen der Nordhemisphäre bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts andauerte und in diesem Zusammenhang auch als LALIA (Late Antique Little Ice Age, „Kleine Eiszeit der Spätantike“) bezeichnet wird, wurde wahrscheinlich durch mehrere Vulkanausbrüche verursacht: einen 535/536 eines unbekannten Vulkans in nördlichen Breiten (vermutlich auf Island), gefolgt von einer Eruption des Ilopango in Mittelamerika 540.

Eine zeitweilige Klimaverschlechterung könnte zu Missernten und zur Schwächung der Abwehrkraft der Menschen geführt haben. Voraussetzung für die rasche Ausbreitung der Krankheit und die hohe Sterberate war nämlich neben dem Umstand, dass der Erreger wohl erstmals im Mittelmeerraum auftrat (siehe unten), auch diese allgemeine Schwächung der Bevölkerung durch Missernten und Kriege. Ein Hauptvertreter der Klimathese ist der Althistoriker Kyle Harper, der darauf hinweist, dass Justinian wegen des Ernteausfalls anordnete, Nahrungsmittel aus weit entfernten Regionen einzuführen. Vertreter der These vermuten, dass Reservoirwirte, vielleicht die (auch heute noch immer wieder mit Beulenpest infizierten) Murmeltiere in der chinesischen Steppe aus ihren Höhlen herausgetrieben wurden. Das Pestbakterium, das Hitze nicht verträgt, könnte sich über Schiffsratten und Flöhe möglicherweise wegen des jahrelangen kühlen Wetters erfolgreich über See- und Landwege verbreitet haben. Schließlich könnten auch Folgen des Klimaereignisses zu Flucht- und Migrationsbewegungen beigetragen haben, die die Krankheit weiter verbreiteten.

Diskussion über den Krankheitserreger

Die Justinianische Pest wurde vor allem aufgrund der genannten Krankheitssymptome in den Werken der spätantiken Historiker Prokopios von Caesarea, der die Seuche als Augenzeuge, aber in enger Anlehnung an die berühmte Darstellung der „Attischen Seuche“ im Werk des Thukydides beschrieb, und Euagrios Scholastikos, der selbst erkrankt war, früh dem Pesterreger (Yersinia pestis) zugeordnet. Prokopios erwähnt Geschwulste, wie sie für die Beulenpest charakteristisch sind, wenngleich die Epidemie vielleicht von anderen Seuchen begleitet wurde. Auch eine griechische Grabinschrift von 542 berichtet, der Bischof Varus von Zora im römischen Syrien sei an bösartigen „Schwellungen an den Lenden und in den Achseln“ gestorben. Der von Prokop ebenfalls beschriebene Bluthusten und rasch einsetzender Verfall und Tod könnte daneben auf ein Auftreten der Lungenpest als Primärerkrankung hindeuten.

Dennoch war lange umstritten, ob es sich bei der Seuche tatsächlich um die Pest im eigentlichen Sinne gehandelt hat. Untersuchungen aus den Jahren 2004 und 2005 stützten erstmals die These, dass es sich bei dem Erreger der Justinianischen Pest um eine Variante von Yersinia pestis handelte: Die DNA des Bakteriums wurde in einem Massengrab bei Sens nachgewiesen, das stratigraphisch auf das 5. oder 6. Jahrhundert datiert worden ist. Eine spätere molekulare Typisierung ergab allerdings das Biovar (BV) Orientalis, und da sich BV Orientalis erst vor ungefähr 300 Jahren entwickelte, kann es sich nur um eine Laborkontamination gehandelt haben. Die Frage nach dem Erreger blieb also zunächst weiter offen. Yersinia pestis-DNA wurde 2005 jedoch auch bei zwei weiblichen Skeletten aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts aus Aschheim im östlichen Umland von München nachgewiesen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 zweifelte diesen Nachweis aber an und kam zu dem Ergebnis, dass Yersinia pestis zum ersten Mal im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert auf den Menschen übertragen worden sei: Die Gruppe um Johannes Krause von der Universität Tübingen konnte im Vergleich von heutigen und mittelalterlichen Yersinia-pestis-Genomen zunächst keine Stämme finden, die sich vom Stammbaum zwischen dem 4. und 12. Jahrhundert abzweigten. Bereits 2012 revidierte dieselbe Arbeitsgruppe aus Tübingen aber ihre Position, denn mit Hilfe eines weitaus umfassenderen Datensatzes von mehr als 300 Peststämmen konnte sie zeigen, dass es zur Zeit der Justinianischen Pest, entgegen der ersten Annahme, doch zu einer Verzweigung des Yersinia pestis-Stammbaumes gekommen ist.

Der erste schlüssige Nachweis sowie die genaue molekulare Typisierung des spätantiken Pesterregers aus Skeletten des 6. Jahrhunderts gelang dann 2013 durch Wissenschaftler der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und dem Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr unter der Leitung von Michaela Harbeck und Holger C. Scholz. Die molekulare Typisierung des Pesterregers aus Zahnmaterial von Skeletten des frühmittelalterlichen Gräberfelds in Aschheim (s. o.) bestätigte die Vermutung der Tübinger Forscher und wies nun eine neue Linie im Stammbaum von Yersinia pestis nach, die sich zwischen den frühen Stammbaum-Abzweigungen N03 und N05 befindet; eine Kontamination war ausgeschlossen. In einer anschließenden Studie konnte zum ersten Mal die nahezu vollständige Genomsequenz eines Y. pestis-Stammes aus justinianischer Zeit ermittelt werden. Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und der Staatssammlung für Anthropologie in München gelang dann 2016 der weitere Nachweis und die erste Vollgenomsequenzierung des Pesterregers aus DNA-Material von Skeletten eines weiteren spätantiken Gräberfelds im Großraum München (Altenerding). 2019 gelang einem internationalen Forscherteam der Nachweis von Yersinia pestis in einem auf das 6. Jahrhundert datierten Grab im englischen Edix Hill, womit zugleich erstmals ein Auftreten der spätantiken Seuche in Britannien dokumentiert wurde. Mithin kann es nach dem derzeitigen Forschungsstand als gesichert gelten, dass ein heute ausgestorbener Erreger vom Stamm Yersinia pestis an der Justinianischen Pest zumindest prominent beteiligt war und es sich bei der verheerenden Seuche somit um die Pest gehandelt hat.

Mögliche längerfristige Folgen

Die mit der Pandemie einhergehende Nahrungsmittelknappheit, das Absinken der Steuereinnahmen und die (allerdings von manchen Historikern bezweifelte) zunehmende Unfähigkeit, genügend Soldaten aufzustellen, um die langen Grenzen des Reiches zu verteidigen, trugen vielleicht dazu bei, dass bis 700 die östlichen und südlichen Küsten des Mittelmeers unter arabischer Herrschaft standen und das oströmisch-byzantinische Reich auf Konstantinopel, Kleinasien, die Randgebiete des Balkans und diverse Inseln im Mittelmeer begrenzt wurde. Auch die Einwanderung der frühen Slawen aus dem Raum der Karpaten auf den Balkan steht in Zusammenhang mit der Pest. Allerdings wurden auch die wichtigsten Gegner der Römer, die Sassaniden, von der Seuche betroffen. Sie verloren Mesopotamien und große Teile Ägyptens an die Araber. Schließlich wurden auch die arabischen Eroberer durch die Pestwelle dezimiert und 685 durch den Kaiser zu einem ungünstigen Friedensvertrag gezwungen.

Şevket Pamuk und Maya Shatzmiller gehen von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Justinianischen Pest und dem wirtschaftlichen Erstarken des islamischen Weltreichs aus. Sie argumentierten, dass die Löhne für die stark verminderte Zahl der einfachen Arbeiter aufgrund des verminderten Angebots deutlich stiegen. Zugleich war die erste Invasionswelle, die sich eher durch dünn besiedelte Regionen bewegt hatte, weniger stark von der Epidemie betroffen als die stärker verstädterten Gebiete der Großreiche Ostrom und Persien.

Auch die christlichen Kulte veränderten sich unter dem Einfluss der Epidemie. Es wurden Massenprozessionen abgehalten, und in Rom etablierte sich der Kult des heiligen Sebastian. Für Irland und Großbritannien wurde angenommen, dass die monastischen Gemeinschaften besonders von der Pest betroffen waren, und dass die Mönche vielfach Träger des Krankheitserregers waren. Dies führte etwa 664 und 684 zu größeren Ausbrüchen. Außerdem beeinflusste die Epidemie die gemeindlichen Strukturen. Nach der ersten großen Pestwelle im 6. Jahrhundert verbesserte sich paradoxerweise jedoch die Gesundheitslage der überlebenden Bevölkerung (indirekt) und nachfolgender Generation.

Siehe auch

Literatur

  • Pauline Allen: The Justinianic Plague. In: Byzantion. Band 49, 1979, S. 5–20.
  • Klaus Bergdolt: Die Pest. München 2011, S. 37–40.
  • Michal Feldman u. a.: A High-Coverage Yersinia pestis Genome from a Sixth-Century Justinianic Plague Victim. In: Molecular biology and evolution. Band 33, Nr. 11,1 (2016), S. 2911–2923, doi:10.1093/molbev/msw170, PMID 27578768, PMC 5062324 (freier Volltext).
  • Henry Gruber: Indirect Evidence for the Social Impact of the Justinianic Pandemic. Episcopal Burial and Conciliar Legislation in Visigothic Hispania. In: Journal of Late Antiquity. 11, 2018, S. 193–215.
  • Peregrine Horden: Plague of Justinian. In: The Oxford Classical Dictionary. 5. Auflage (Oxford Classical Dictionary Online).
  • Peregrine Horden: Mediterranean Plague in the Age of Justinian. In: Michael Maas (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Age of Justinian. Cambridge 2005, ISBN 0-521-52071-1, S. 134–160.
  • Karl-Heinz Leven: Die „Justinianische Pest“. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung. 6, 1987, S. 137–161.
  • Lester Little (Hrsg.): Plague and the End of Antiquity. The Pandemic of 541–750. Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-84639-4.
  • Mischa Meier: Prokop, Agathias, die Pest und das „Ende“ der antiken Historiographie. In: Historische Zeitschrift. Band 278, 2004, S. 281–310, hier: S. 301–303.
  • Mischa Meier: „Hinzu kam auch noch die Pest …“ Die sogenannte Justinianische Pest und ihre Folgen. In: Mischa Meier (Hrsg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-94359-5, S. 86 ff.
  • Mischa Meier: The ‘Justinianic Plague’: the economic consequences of the pandemic in the eastern Roman empire and its cultural and religious effects. In: Early Medieval Europe. Band 24, 2016, S. 267–292.
  • Lee Mordechai, Merle Eisenberg: Rejecting Catastrophe. The Case of the Justinianic Plague. In: Past & Present. Band 244, 2019, S. 3–50. (Kontroverser Aufsatz, dessen Autoren die Position vertreten, dass Ausmaß und Folgen der Seuche in der Forschung stark überschätzt würden.)
  • William Rosen: Justinian’s Flea. Plague, Empire, and the birth of Europe. Cambridge 2007, ISBN 978-1-84413-744-2. (Populärwissenschaftlich und gut lesbar, aber problematisch, da teils sehr generalisierend und zu stark vereinfachend.)
  • Dionysios Ch. Stathakopoulos: Famine and pestilence in the Late Roman and early Byzantine empire. A systematic survey of subsistence crises and epidemics. Aldershot 2004, ISBN 0-7546-3021-8.

Weblinks

Anmerkungen


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