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Archetyp (Psychologie)
Archetypus oder geläufiger Archetyp, Plural Archetypen, bezeichnet in der Analytischen Psychologie die dem kollektiven Unbewussten zugehörig vermuteten Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. Das Wort stammt aus griechisch archē, „Ursprung“, mit zugehörigem Präfix archi-, „Ur-, Ober-, Haupt“, und typos, „Schlag, Abdruck“ (nach typein = „schlagen“) und bedeutet also wörtlich etwa „Ur- oder Grundprägung“. Oft wird Archetyp sprachlich ungenau mit Urbild übersetzt, da er sich auch in symbolischen Bildern zeige. Begrifflich eher zutreffend ist das Wort „Urform“.
Archetypen sind definiert als psychische (auch psychophysische) Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten und das Bewusstsein beeinflussen. Auch zum Bewusstsein selbst und zu seiner Entwicklung zeige die Kulturgeschichte archetypische Bilder, wie zum Beispiel die Himmelslichter, besonders auch die Sonne als Tagesgestirn (auch in Verbindung mit Vorstellungen von lichtbringenden, also symbolisch verstanden bewusstseinsbringenden Gottheiten). Einige Archetypen entsprächen zentralen kollektiven Ur-Erfahrungen der Menschheit wie z. B. weiblich/männlich, Geburt, Kindheit, Pubertät, Wandlung und Tod. Auch die Vielfalt religiöser Erfahrung könne angesehen werden als nach archetypischen Mustern strukturiert, welche interreligiös (religionsübergreifend) anzutreffen seien. Das tiefenpsychologische Konzept der Archetypen geht auf den Schweizer Psychiater und Psychologen Carl Gustav Jung zurück, der die Analytische Psychologie erfand. Es ist ein offenes Konzept, das keine exklusiven Definitionen von Archetypen und keine bestimmte Anzahl derselben enthält.
Ein Archetyp als solcher sei unanschaulich und unbewusst, er sei in seiner Wirkung aber u. a. in symbolischen Bildern erfahrbar, wie beispielsweise in Träumen, Visionen, Psychosen, künstlerischen Werken, Märchen und Mythen. Carl Gustav Jung leitete die Existenz von Archetypen vorwiegend aus dem Vergleich von Motiven aus Träumen besonders auch bei Kindern, Märchen, Sagen und astrologischen Vorstellungen sowie vergleichender Religionswissenschaft und Mythologie ab. Auch die Motivik der Alchemie lieferte ihm viel Vergleichsmaterial. Damit handelt es sich um ein induktives Konzept, wobei allgemeine Aussagen bzw. Thesen aus Gemeinsamkeiten gedeuteter empirischer Befunde abgeleitet werden.
Inhaltsverzeichnis
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1 Die „Archetypen“ in der Psychologie C. G. Jungs
- 1.1 Entwicklung des Konzepts
- 1.2 Archetyp und archetypisches Bild
- 1.3 Archetypische Symbole
- 1.4 Ähnliche Archetypen in allen Kulturarealen
- 1.5 Archetyp, Trieb und Instinkt
- 1.6 Archetypische Grundlagen der Struktur der menschlichen Psyche
- 1.7 Der Archetyp als nicht rein Psychisches
- 1.8 Archetypen als Gegenstand verschiedener Wissenschaftsbereiche
- 2 Der Archetypus in der Dramaturgie
- 3 Siehe auch
- 4 Literatur
- 5 Weblinks
- 6 Einzelnachweise
Die „Archetypen“ in der Psychologie C. G. Jungs
Entwicklung des Konzepts
Die Ursprünge von Jungs Theorie von „Archetypen“ lassen sich bis auf seine Dissertation von 1902 Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene verfolgen. Als ausgearbeitete Theorie sprach Jung erstmals 1934 bei einem Vortrag bei der Eranos-Tagung im Südschweizer Ort Ascona von „Archetypen des kollektiven Unbewussten“. Den Begriff „Archetypus“ hatte Jung in Kenntnis seiner Verwendung im 1./2. Jh. beim Übergang vom Hellenismus zu den Kirchenvätern wie auch in der spirituellen Alchemie im Europa des 17. Jahrhunderts gewählt. Ausdrücklich nahm Jung in seinen frühen Werken auch auf Konzepte der Anthropologie und „Völkerpsychologie“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Bezug. Für die Konzeptentwicklung des „Archetypus“ waren inhaltlich Motiv-Vergleiche aus verschiedensten Quellen ausschlaggebend. Jung beobachtete in Träumen und Phantasien von Menschen „typische Mythologeme“, von denen die betreffenden Personen nie etwas hätten aus ihrem Umfeld hören können. Auch interkulturell träten archetypische Motive unabhängig von der Möglichkeit von Tradition und Migration auf. Besonders auch, dass „gewisse archetypische Motive, die der Alchemie geläufig sind, auch in Träumen moderner Personen, welche keinerlei Kenntnisse der Alchemie haben, auftreten“, hatte Jung von der Existenz allgemeiner Grundformen innerer Bilder überzeugt.
Jung betonte das Überpersönliche der Archetypen: „Die Inhalte des persönlichen Unbewußten sind Erwerbungen des individuellen Lebens, die des kollektiven Unbewußten dagegen stets und a priori vorhandene Archetypen.“
Archetyp und archetypisches Bild
C. G. Jung unterschied anfangs wenig, später dann klar zwischen dem unanschaulichen „Archetyp“ als angenommenem Strukturprinzip einerseits und den archetypischen Bildern und Vorstellungen andererseits: als konkrete Realisierungen von Archetypen zum Beispiel in den Träumen eines individuellen Menschen. „Die archetypischen Vorstellungen, die uns das Unbewußte vermittelt, darf man nicht mit dem Archetypus an sich verwechseln.“ Der „Archetyp“ ist nicht eine konkrete Vorstellung, sondern „eine Tendenz, Vorstellungen zu erzeugen, die sehr variabel sind, ohne ihr Grundmuster zu verlieren.“
Zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen dem unanschaulichen Archetyp und seinen anschaulichen Realisierungen verwendete Jung die Metapher von Kristall-Mutterlauge versus individuellem Kristall. Der Archetyp könne analog dazu gesehen werden, dass „die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert [sei], ohne selber eine stoffliche Existenz zu besitzen. Letztere erscheint erst in der Art und Weise des Anschließens der Ionen und dann der Moleküle. … Wie zum Beispiel der Mutterarchetypus jeweils empirisch erscheint, ist aus ihm allein nie abzuleiten, sondern beruht auf anderen Faktoren.“
Zur archetypischen Qualität einer inneren Vorstellung gehört auch seine emotionale Aufladung, seine „Energie“: In der praktischen Erfahrung der Archetypen zeige sich: „… sie [die Archetypen] sind Bilder und gleichzeitig Emotionen. Man kann von einem Archetypus nur dann sprechen, wenn diese beiden Aspekte gleichzeitig vorhanden sind.“
Archetypische Symbole
Ein archetypisches Symbol zeichnet sich dadurch aus, dass es das menschliche Bewusstsein in Kontakt mit dem kollektiven Unbewussten bringt, wenn es in einem Menschen aktuell „lebendig“ resp. funktional ist. Symbolbedeutungen sind meist mehrdeutig und vielschichtig und hängen auch vom konkreten Kontext eines Menschen oder einer Kultur ab. Symbole lösen auch Assoziationen zu geistigen Ideen aus. Beispiele für archetypische Symbole können sein: ein Kind, ein Krieger, ein Wanderer, ein Beschützer, ein Heilsbringer; Früchte, Hausbau, Feuer und Brand, ein Fluss, ein See oder Meer. An überpersönlichen Bedeutungen (und entsprechenden Assoziationen) können hier allgemeinmenschliche und kulturspezifische unterschieden werden. Dabei gibt es Grundassoziationen, die sich in vielen Kulturen stark ähneln.
Zum Beispiel: perfekte Kreise kennen alle Menschen von der Gestalt der Sonne und des Mondes wie auch von den Bahnen der Gestirne im Tageslauf. Mit diesen allgemeinmenschlichen Wahrnehmungen verbunden wurde der Kreis in den meisten Kulturen zu einem Symbol für die himmlische Sphäre und ihrer zeitlichen Kreisläufe (ihrer unendlichen Bewegung). Ringe, Kronen und Heiligenscheine oder im Daoismus der Kreis mit den Symbolen von Yin und Yang sind Beispiele konkreter Ausformungen des Kreises, mit symbolischen Bedeutungen von Unendlichkeit und Würde stiftender Verbundenheit mit einem umfassenden Ganzen. Ein gleichmäßiges Kreuz wird z. B. mit vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten oder vier Mondphasen (Wochen im Monat) assoziiert, die räumliche und zeitliche Orientierung bedeuten sowie die Anordnung von Gegensätzen um einen Mittelpunkt. In rechteckigen räumlichen Formen gestaltet werden meist die irdischen Wohnungen (Häuser) und Felder der Menschen. In der weltweit auftretenden Symbolgruppe des Mandalas wird häufig die Symbolik des Kreises und differenzierter Kreuzstrukturen kombiniert; beispielsweise in China, Indien, Tibet, in verschiedenen neolithischen Kulturen, bei den Platonikern und in der Alchemie. Ein Beispiel für ein archetypisches Symbol in Tiergestalt ist die Schlange. Sie tritt als religiöses Symbol zum Beispiel im Hinduismus und Christentum auf und erscheint in Träumen auch bei Mitteleuropäern furchtbar oder heilsam, auch wenn Schlangen in ihrer Lebenswelt nicht vorkommen und sie sich nicht bewusst mit ihnen befassen.
Ähnliche Archetypen in allen Kulturarealen
Die Mythologien bzw. religiösen Systeme unterschiedlicher Kulturareale weisen viele ähnliche oder gleiche Strukturen, Muster und symbolische Bilder auf. Dies kann als Beleg für einen gemeinsamen Hintergrund archetypischer Strukturen in der menschlichen Psyche gedeutet werden. Ein Beispiel ist das weltweite Vorkommen von Mythen einer „Großen Göttin“ oder „Mutter“ (sog. Mutterarchetyp). Bereits altsteinzeitliche Venusfigurinen können ein Hinweis darauf sein. Bekannte Gestalten der Religionsgeschichte wie beispielsweise die sumerische Inanna, die ägyptische Nut und Hathor, die indische Shakti, die germanische Freya und die japanische Amaterasu stellen eine „Große Göttin“ dar – wobei diese oft auch in verschiedene Aspekte (Göttinbilder) aufgefächert erscheint: z. B. als Demeter, Kore oder Persephone in der altgriechischen Religion. Im Christentum sind dem Bild der Maria Eigenschaften aus dem Archetyp einer „Großen Mutter“ zugewachsen. Ein neueres Beispiel für die Verwirklichung dieser archetypischen Struktur der Vorstellung in religiösen Bewegungen mag auch das Wicca-Heidentum sein.
Ein weiteres Beispiel ist der Archetyp des Helden und seiner (manchmal auch göttlichen) Widersacher. Beispiele für den Archetyp des Helden sind der sumerische Gilgamesch, der ägyptische Re (in seiner „Inkarnation“ im Pharao), der germanische Donar/Thor, der griechische Perseus und Herakles. Im Christentum wird dieser Archetyp besonders durch die Drachentöter Sankt Michael und St. Georg wie auch alttestamentlich in den „himmlischen Heerscharen“ dargestellt und in die religiösen Vorstellungen integriert. Heldengestalten im Märchen (hier erscheint diese Gestalt auch öfter weiblich als Heldin) können archetypische Grundlagen eines sich behauptenden Ich-Bewusstseins darstellen, wie auch ihren Widersachern auf persönlicher Ebene (Schattenaspekte der Persönlichkeit) entsprechen.
Auch der Baum ist ein sehr bekanntes archetypisches Motiv in der Kultur- und Religionsgeschichte wie auch im Traumleben der Menschen. Beispiele hierfür sind Vorstellungen von einem Weltenbaum oder Lebensbaum (in der Kabbala, als Bäume des Lebens und der Erkenntnis im Alten Testament, dann der Kreuzigung Christi in christlicher Ikonographie und Mystik). Andere Beispiele sind der Weltenbaum Yggdrasil in der germanischen Mythologie, der Yaxche-Baum der Maya, der Baum mit den Früchten der Unsterblichkeit in China, oder heilige Bäume wie die Eiche des Zeus oder des Donar oder in druidischen Kulthandlungen, die Sykomore als ein Ort der Göttin Hathor bei den Ägyptern und der Bodhibaum im Buddhismus.
C. G. Jung hat besonders intensiv zu folgenden archetypischen Motiven geforscht und an ihnen seine Theorien entwickelt: den archetypischen Grundlagen der „Anima“ und des „Animus“ und des „Selbsts“ als Bereichen der Seele; dem Archetyp des Kindes, des Mädchens (der Kore), der Mutter, des Mandala, der Gestalt des Tricksters, des Wotan, archetypischer Aspekte im christlichen Trinitätsdogma, des Baumes, der Gegensätze und ihrer Vereinigung (z. B. in der Symbolik von „Sonne“ und „Mond“ wie auch von „König“ und „Königin“). Gemäß der analytischen Psychologie macht die Gesamtheit der Archetypen die Struktur des kollektiven Unbewussten aus.
Archetyp, Trieb und Instinkt
Archetypen beruhen aus biologischer Sicht auf einer Instinktgrundlage, ohne mit dieser identisch zu sein. „Trotz oder gerade wegen der Verwandtschaft mit dem Instinkte stellt der Archetypus das eigentliche Element des Geistes dar“. In der von Jung metaphorisch als Farbspektrum dargestellten Bandbreite des Psychischen sei die Triebdynamik sozusagen am infraroten Ende, die archetypischen Bilder und ihre Dynamik am ultravioletten Ende, und diese Gegensätze berührten sich in den typischen, instinktiven Verhaltensmustern des Menschen. In ihrem biologischen Aspekt verstanden, haben sich Archetyp, Trieb und Instinkt evolutionär entwickelt als „Niederschlag alles menschlichen Erlebens“, welches auch die Kultur und Bewusstseinsentwicklung des Menschen prägte. Beispiele für ein solches instinktgeprägtes Verhalten sind verschiedene Lebensphasen wie Kindheit und Jugend oder zwischenmenschliche Beziehungen wie das Mutter-Kind-Verhältnis oder die Partnerwahl, jedoch auch das Erforschen der Umwelt, Erlernen der Sprache, Teilnahme am wirtschaftlichen Leben, Verhältnis zur Religion und die Übernahme sozialer Verantwortlichkeit.
Archetypische Grundlagen der Struktur der menschlichen Psyche
Jung erkannte in Träumen und Mythen einige Hauptkategorien von archetypischen Symbolen, die mit der Struktur der menschlichen Psyche zusammenhängen, unter anderem:
- Das (Ich-)Bewusstsein selber hat nach Jung eine archetypische Grundlage in einer Tendenz des Selbst, Bewusstsein hervorzubringen. Ein archetypisches Symbol des Bewusstseins ist die „Sonne“ und die verschiedenen Sonnenheldenmythen, wie Jung z. B. in Mysterium Coniunctionis schrieb: „König Sol wandert als der Archetypus des Bewußtseins durch die Welt des Unbewußten als eine [Welt] jener vielen Gestalten, welche vielleicht ebenfalls eines Bewußtseins fähig sind.“ Ein Beispiel einer symbolischen „Sonne“ als archetypischem Bild auch des menschlichen Bewusstseins ist der ägyptische Sonnengott Re (und seiner nächtlichen Erneuerungsreise durch die Unterwelt); entsprechend war Christus als „Sol Novus“, der als neuer Lichtbringer ein neues Bewusstsein auf die Welt bringe, bezeichnet worden. Auch andere Gestirne, besonders der Mond und die Planeten, wurden archetypische Symbole für Erscheinungsweisen und Aspekte des Bewusstseins im Menschen.
- Der Schatten enthält un- oder teilbewusste Persönlichkeitsanteile, die häufig verdrängt oder verleugnet werden, weil sie dem Vorstellungsbild des Ichbewusstseins von sich selbst entgegenstehen. Dies reicht von den dem Ichbewusstsein nahen Motivationen, die aber aufgrund moralischer Gesichtspunkte nicht gerne bewusstgemacht werden, bis hin zum ganzen Reichtum des „natürlichen Menschen“ einschließlich seiner tierischen Verhaltensweisen. Archetypische Symbole des Schattens sind zum Beispiel „dunkle Doppelgänger“ oder „böse Widersacher des Helden“. Unbewusste Schattenprojektionen auf den jeweils anderen Menschen sind typische Elemente persönlicher wie auch kollektiver (z. B. nationaler) Konflikte. Die Bewusstmachung dieser unwillkürlichen Schattenprojektionen kann daher die Möglichkeiten einer Konfliktlösung massiv verbessern.
- Die Anima und der Animus bezeichnen gegengeschlechtlich erscheinende Seelenbereiche eines Menschen. Archetypische Symbole der Anima können z. B. Sirene und die Loreley, die romantische (fremde) Schönheit, unerreichbare geistige Geliebte oder auch die Sophia sein. Die Anima kann positiv oder negativ erscheinen und auf beide Weisen in der Persönlichkeitsentwicklung wirken. Typische Symbole des Animus können z. B. der verlockende Magier, der starke Held, der zauberhafte Künstler oder der spirituelle Führer sein. Der Animus ebenfalls kann positiv oder negativ erscheinen und in der Persönlichkeitsentwicklung auf beide Weisen wirken. Beide Archetypen werden meist unwillkürlich in Personen des Gegengeschlechts projiziert und tragen somit zu deren manchmal überwältigender Faszination bei.
- Der Archetyp des Selbsts umfasst sowohl das Ichbewusstsein als auch Unbewusstes und stellt das Zentrum und die Gesamtheit der menschlichen Psyche dar, deren zentrale Steuerungs- und Entwicklungsinstanz es ist. Typische Symbole des Selbsts sind das „göttliche Kind“, der oder die „alte Weise“, der „Stein der Weisen“, das „Mandala“ und verschiedene Gottesbilder in ihrer Erscheinung in der Seele. Bezogen auf Symbole des Selbsts schrieb Jung: „Einheit und Ganzheit stehen auf der höchsten Stufe der objektiven Wertskala, denn ihre Symbole lassen sich von der imago Dei [d. h. dem Gottesbild] nicht mehr unterscheiden.“ Das Selbst kann nicht nur offensichtlich förderlich, sondern auch „dunkel“ und als „Widersacher“ dem Ich gegenüber erscheinen. Das Selbst wird öfter unwillkürlich in politische oder religiöse Führer projiziert, auch in Ideologien oder soziale Massenbewegungen.
- Schatten, Anima/Animus und Selbst sind Sonderfälle in Jungs Theorie der Archetypen, im Grunde „Überkategorien“ derselben: Diese Begriffe beschreiben Großbereiche seelischer Inhalte und zugleich der Psychologie der Persönlichkeit, die wiederum verschiedene Motivgruppen enthalten, die Jung unter der Bezeichnung spezifischer Archetypen beschrieb. Auch haben sich die mit diesen Begriffen verbundenen Konzepte mit der Zeit erkennbar entwickelt, so dass nicht alle zwischenzeitlich gegebenen Definitionen miteinander konsistent sind.
Wenn ein archetypisches Verhalten unterdrückt wird, so kann dies zu Neurosenbildung führen, es zeigt sich aber auch in Aktivitäten des persönlichen Schattens: „Selbst solche Tendenzen, die einen höchst heilsamen Einfluß ausüben können, verwandeln sich in wahre Dämonen, wenn sie verdrängt werden. Deshalb haben viele wohlmeinende Leute sehr zu Recht Angst vor dem Unbewußten und nebenbei auch vor der Psychologie.“ Darauf bezugnehmend weiter: „[…] je mehr sie verdrängt werden, desto stärker durchdringen sie die gesamte Persönlichkeit in Form einer Neurose.“
Der Archetyp als nicht rein Psychisches
C. G. Jung entwickelte sein Konzept des „Archetypus“ zunehmend in die Richtung, diesen nicht allein auf den Bereich des Psychischen beschränkt zu sehen. Es bestehe eine „gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Materie und Psyche zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Sache sind“ und somit sei auch der Archetypus im Grunde „jenseits der psychischen Sphäre bestimmt“, auch wenn er sich psychisch manifestiere. „Archetypen haben daher eine Natur, die man nicht mit Sicherheit als psychisch bezeichnen kann.“ Sie besäßen auch einen „nicht-psychischen Aspekt“. Über die Fragen des „psychoiden Archetypus“ und der Beziehung von Psyche und Materie pflegte Jung einen jahrelangen Austausch mit dem Physiker Wolfgang Pauli.
Archetypen als Gegenstand verschiedener Wissenschaftsbereiche
In vielen wissenschaftlichen Disziplinen wurde mittlerweile erforscht, inwiefern die menschliche Spezies von arttypischen unbewussten Strukturen geprägt wird. Solche Strukturen wurden unter anderem in der Ethologie, der Anthropologie, der Linguistik, der Hirnforschung, der Soziobiologie, der Psychiatrie, der Kognitionspsychologie, der Evolutionspsychologie und in der experimentellen Traumforschung postuliert. In diesen Bereichen entstanden für archetypische Strukturen Ausdrücke wie „angeborene Auslösemechanismen“, „Verhaltenssysteme“, „Tiefenstrukturen“, „psychobiologische Reaktionsmuster“, „tief homologe neurale Strukturen“, „epigenetische Regeln“ und „Darwin’sche Algorithmen“.
Der Archetypus in der Dramaturgie
In Film und Theater bieten sich Archetypen an, um die einzelnen Rollen und ihre jeweilige Funktion zu charakterisieren. Durch Archetypen kann ein Konsens zwischen Darstellern und Publikum hergestellt werden, da man beim Zuschauer die verwendeten Schablonen als bekannt voraussetzen kann. Die meisten archetypischen Darstellungen entwickelten sich aus den Mythologien, die ihrerseits zur Verbreitung auch auf dramaturgische Mittel angewiesen waren und sind. Die wichtigsten Archetypen sind der Held (und, daraus entwickelt, der Antiheld) und demgegenüber der Widersacher. In Romanzen wie auch Liebesdramen zeigt sich oft das klassische Wechselspiel von Animus und Anima, oft auch verbunden mit dem Archetyp des Helden oder der Heldin.
Siehe auch
Literatur
- Carl Gustav Jung: Traum und Traumdeutung. Dtv, 2001, ISBN 3-423-35173-X.
- Carl Gustav Jung, Lorenz Jung: Archetypen. ISBN 3-423-35175-6.
- Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Frankfurt 1977, ISBN 3-596-26365-4.
- Jolande Jacobi: Komplex, Archetypus, Symbol. 1957.
- Erich Neumann: Die große Mutter. Patmos, 2003, ISBN 3-530-60862-9.
- Julius Schwabe: Archetyp und Tierkreis. Basel: Schwabe 1951.
- Anthony Stevens: Jung. Freiburg i. Br.: Herder 1999.
- Anthony Stevens: Vom Traum und vom Träumen. Deutung, Forschung, Analyse. München: Kindler 1996. ISBN 3-463-40293-9
- Christian Roesler: Das Archetypenkonzept C. G. Jungs im Lichte aktueller Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, humangenetik und Kulturpsychologie. Le concept d’archétype de C. G. Jung à la lumière des connaissances actuelles en neurosciences, en génétique humaine et en psychologie culturelle. Notions jungiennes et perspectives contemporaines, HS 9, 2014, S. 163–189. doi:10.4000/rg.1749