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Katastrophe von Bhopal
23.28083333333377.410555555556Koordinaten: 23° 16′ 51″ N, 77° 24′ 38″ O
Die Katastrophe von Bhopal, auch Bhopalunglück, ereignete sich am 3. Dezember 1984 im indischen Bhopal, der Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh. In einem Werk des börsennotierten indischen Unternehmens Union Carbide India Limited, kurz UCIL, traten aufgrund menschlicher Fehler mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre. Das Unglück war die bisher schlimmste Chemiekatastrophe und eine der bekanntesten Umweltkatastrophen der Geschichte. Tausende Menschen starben an ihren unmittelbaren Folgen.
UCIL war 1984 zu 51 Prozent in Besitz des US-Chemiekonzerns Union Carbide Corporation, UCC. Die restlichen Aktien befanden sich im Besitz des indischen Staates, indischer Finanzinstitute und privater Investoren in Indien.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Ab 1977 hatte der Konzern im zentralindischen Bhopal jährlich 2500 Tonnen des Schädlingsbekämpfungsmittels Sevin produziert. Die Anlage war für eine Kapazität von 5000 Tonnen ausgelegt. Jedoch ging der Absatz von Sevin Anfang der 80er-Jahre weiter zurück. Deshalb wurden Kosten gesenkt, z. B. indem Personal reduziert, Wartungsintervalle verlängert und billigere Austauschteile aus einfachem Stahl anstelle von Edelstahl verwendet wurden. Schließlich wurde eine Schließung der Fabrik ins Auge gefasst.
Verlauf
Zum Zeitpunkt des Unglücks fand aufgrund von übermäßigen Lagerbeständen keine Produktion statt. Es wurden lediglich Wartungs- und Kontrollarbeiten erledigt. Nachdem im Zuge von Reinigungsarbeiten durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen sowie von Versäumnissen beim Unterhalt der Anlage Wasser in einen Tank für Methylisocyanat (MIC) eingedrungen war, kam es zu einer exothermen Reaktion, bei der so viel Kohlenstoffdioxid freigesetzt wurde, dass sich der Tankinnendruck stark erhöhte und zwischen 25 und 40 Tonnen Methylisocyanat sowie andere Reaktionsprodukte, vor allem Dimethylamin, 1,3,5-Trimethylisocyanurat und 1,3-Dimethylisocyanurat durch die Überdruckventile in die Atmosphäre entwichen. Der gesamte Tankinhalt verflüchtigte sich in weniger als zwei Stunden.
Methylisocyanat
Methylisocyanat verursacht bei Exposition Verätzungen der Schleimhäute, Augen und Lungen, jedoch wurden bei Bhopalopfern vielfach auch schwere Verätzungen innerer Organe gefunden. Dieser Befund war insofern überraschend, als Methylisocyanat zu reaktiv ist, um unverändert in den Kreislauf zu gelangen. Seine direkte Toxizität resultiert aus der Fähigkeit, zahlreiche nukleophile Gruppen stoffwechselaktiver Biomoleküle anzugreifen. Der Mechanismus für den Transport wurde 1992 entdeckt. Demnach kann Glutathion, ein Tripeptid, dessen Aufgabe es eigentlich ist, den Organismus vor der Schädigung durch toxische Substanzen zu schützen, Methylisocyanat reversibel an die Mercaptogruppe addieren und damit im Körper transportieren.
Weitere Ursachen und Folgen
Reaktion des Wassers mit MIC
Grundlegende Ursache des Unglücks war eine stark exotherme Reaktion des gelagerten MIC mit Wasser im Lagertank 610 des Werks. Nach Angaben von Union Carbide Corporation müssen damals zwischen 450 und 900 Liter Wasser in den Lagertank gelangt sein. MIC reagiert mit Wasser über 0 °C nach der Gleichung:
und somit unter starker Volumenzunahme beziehungsweise Druckerhöhung durch Entstehung des gasförmigen Kohlenstoffdioxids und des hochentzündlichen und ebenfalls gasförmigen Methylamins.
Qualitätsabweichungen
Zur Reaktion trug mutmaßlich außerdem bei, dass die Qualität des gelagerten MIC nicht spezifikationsgerecht war. Durch einen erheblich höheren Chloroformgehalt als spezifiziert (etwa 20 statt 0,5 Prozent) und die durch die exotherme Reaktion bedingte Temperatur von 100 bis 200 °C kam es offenbar zur Bildung von Salzsäure, die den Tank oberflächlich korrodieren ließ. Die freigewordenen Metallionen katalysierten ihrerseits weitere exotherme Nebenreaktionen zu den oben erwähnten Nebenprodukten.
Eindringen des Wassers
Der Grund für das Eindringen des Wassers konnte sowohl im Untersuchungsbericht der Union Carbide Corporation als auch dem Bericht der Gewerkschaften nicht abschließend geklärt werden. Es gibt drei diskutierte Hypothesen:
- Verwechslung einer Wasserleitung mit einer Stickstoffleitung
- Eindringen durch lecke Ventile beim Spülen von Leitungen
- Absichtliche Einleitung zur einfachen Erhöhung des Drucks im Tank 610
Die abgesperrten Wasserleitungen wurden nicht durch eine zusätzliche Sperrscheibe im Flansch gesichert.
Nichtfunktion der Sicherungssysteme
Obwohl zur Sicherung der Lagerung des MIC bei 0 °C ein separates Kühlsystem installiert war, wurde dies etwa fünf Monate vor dem Unfall abgeschaltet; nach nicht weiter verifizierbarer Quellenlage möglicherweise, weil die verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe anderweitig benötigt wurden. Ein Natronlaugenwäscher zur Beseitigung auftretender Gase war nachweisbar nicht funktionsbereit. Eine Gasfackel zur Beseitigung von aus dem Wäscher austretenden Gasen war seit drei Monaten abgeschaltet, und die Verbindungsrohre zwischen ihr und dem Wäscher waren offenbar aus Wartungsgründen demontiert. Wasserfontänen um die Anlage erreichten nicht die notwendige Höhe. Alle diese Sicherungssysteme wären allerdings selbst bei einwandfreier Funktion nicht im Entferntesten geeignet gewesen, einen derartigen Störfall abzufangen.
Die offiziellen Berichte geben Anlass zur Vermutung, dass außerdem das Anlagenpersonal reduziert und die Sicherheitsausbildung aus Kostengründen stark vernachlässigt gewesen seien. Die Alarmsirene sei zunächst abgeschaltet worden, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Schließlich seien die Tanks an Standards westlicher Industrienationen gemessen zu groß und überfüllt gewesen. Der Füllstand lag zum Zeitpunkt der Katastrophe zwischen 70 und 87 Prozent. Vergleichbare Anlagen arbeiten mit Tanks unter 20.000 Litern und mit einer maximalen Füllmenge von 50 Prozent der Gesamtkapazität. Mitverantwortlich für die hohe Anzahl der Opfer ist auch die Tatsache, dass die meisten Betroffenen in Richtung des Krankenhauses flohen und somit mitten in die Wolke hinein; Katastrophenpläne existierten nicht.
Für die Sicherheitsmängel in Bhopal und die daraus resultierenden Folgen wurde bis 2010 niemand persönlich vor der Justiz zur Verantwortung gezogen. Der damalige Vorstandsvorsitzende von Union Carbide, Warren Anderson, der nach der Giftgaskatastrophe aus den USA nach Indien geflogen und unmittelbar nach seiner Ankunft verhaftet worden war, kam gegen eine Kaution von 2000 Dollar frei und entzog sich einer möglichen Bestrafung durch Flucht in die USA.
In der Folge der Unglücke von Bhopal und Seveso wurden international die Sicherheitsstandards verschärft.
Die Opfer
Schätzungen der Opferzahlen reichen von 3800 bis 25.000 Toten durch direkten Kontakt mit der Gaswolke sowie bis zu 500.000 Verletzten, die mitunter bis heute unter den Folgen des Unfalls leiden. Die zum Teil großen Abweichungen der Schätzungen erklären sich vor allem aus der ungenauen Kenntnis über die Zahl der Einwohner des betroffenen Elendsviertels in dieser Zeit. Es lebten damals etwa 100.000 Menschen in einem Radius von einem Kilometer rund um die Pestizidfabrik. Die indischen Behörden hatten die Ansiedlung rund um die bestehende Fabrik zunächst geduldet, später sogar mit der Übertragung des Landes an die Bewohner legalisiert. Tausende erblindeten, Unzählige erlitten Hirnschäden, Lähmungen, Lungenödeme, Herz-, Magen-, Nieren-, Leberleiden und Unfruchtbarkeit. Später kamen Fehlbildungen an Neugeborenen und Wachstumsstörungen bei heranwachsenden Kindern hinzu. Zur Erforschung der Langzeitfolgen können Methoden der Epidemiologie eingesetzt werden, wie es auch bei anderen Katastrophen, wie z. B. der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl oder dem Chlorgasunfall in Graniteville in South Carolina, geschieht.
Mangelnde Haftung
Union Carbide hatte das Chemiewerk aus finanziellen Gründen in ein Niedriglohnland mit niedrigen Sicherheitsvorschriften verlegt. Die indische Regierung verlangte 3 Milliarden US-Dollar Schadensersatz vom Unternehmen, welches dagegen Rechtsmittel einlegte. Die Firma zahlte nach langwierigen Verhandlungen und gegen Verzicht auf Strafverfolgung letztlich durch ein am 14. Februar 1989 vom Obersten Gericht Indiens gefälltes Urteil 470 Millionen Dollar (damaliger Jahresumsatz der Firma: 9,5 Milliarden Dollar) an den indischen Staat, der das Geld jedoch nur in geringen Teilen für die Opfer aufwendete. Weitere 250 Millionen US-Dollar zahlten Versicherungen. Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen der Verletzungen und Vergiftungen. Ein Grund dafür ist auch, dass sich Dow Chemical bis heute weigert, das von Union Carbide ehemals genutzte Industriegelände von den hochgiftigen Überresten zu befreien und so den Gifteintrag in Luft und Grundwasser zu beenden. Dies wird damit begründet, dass die von Dow Chemical 2001 aufgekaufte Union Carbide Corporation ihren Anteil von 50,9 Prozent an der Union Carbide India bereits 1994 verkauft hatte. Die Sanierung des mit Quecksilber und krebserregenden Chemikalien vergifteten Geländes ist bis heute nicht erfolgt, obwohl nach einer Greenpeace-Studie die Kosten lediglich in der Größenordnung von 30 Millionen Dollar lägen. Alle Auslieferungsgesuche der indischen Regierung für den zum Zeitpunkt des Unglückes amtierenden Vorstandsvorsitzenden von Union Carbide, Warren Anderson, wurden von den USA abgelehnt.
Sanierung und strafrechtliche Aufarbeitung
Am 7. Juni 2010 – mehr als 25 Jahre nach dem Unglück – wurden erstmals acht leitende Angestellte der Betreiberfirma UCIL von einem indischen Gericht der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden und zu jeweils zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 1800 Euro verurteilt.
Erst seit 2014 werden die an das Werk angrenzenden Wohngebiete mit Trinkwasser aus einer entfernten Quelle versorgt. Dafür war ein Urteil des Obersten Gerichtshofs Indiens erforderlich. Die Wasserleitungen sind jedoch ungenügend verlegt, so dass nach Regenfällen kontaminiertes Umgebungswasser eindringt. Anschließend ist auch dieses Wasser belastet.
Die zuständigen Behörden des Bundesstaates machen seit dem Unfall immer wieder Versprechungen, die kontaminierte Umgebung sanieren zu wollen. Bis 2017 erfolgten lediglich oberflächliche Maßnahmen.
Literatur
- Alfred de Grazia: A Cloud over Bhopal – Causes, Consequences and Constructive Solutions. Metron Publications, 1985, ISBN 0-940268-09-4 (engl.)
- International Confederation of free trade unions: Bericht der Gewerkschaften über Bhopal. Genf, Juli 1985
- Indische Regierung: Report on scientific studies on the factors related to Bhopal toxic gas leakage. 12/1985 (engl.)
- Dominique Lapierre, Javier Moro: Fünf nach zwölf in Bhopal. Die unglaubliche Geschichte der größten Giftgaskatastrophe unserer Zeit. Europa Verlag, Hamburg/Leipzig/Wien 2004, ISBN 3-203-79508-6. (Französische Originalausgabe: Il était minuit cinq à Bhopal. 2001, übersetzt von Sabine Grimm)
- Charles Perrow: Normale Katastrophen. Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik. 2. Auflage. Campus, Frankfurt am Main/New York City 1992, ISBN 3-593-34125-5. (deutsche Erstausgabe 1987) (Originaltitel: Normal accidents übersetzt von Udo Rennert, mit einem Vorwort von Klaus Traube)
- Indien: Die chemische Apokalypse. In: Der Spiegel. Nr. 50, 1984, S. 108–120 (online – 10. Dezember 1984).
- International Campaign for Justice in Bhopal (engl.)
- Störfallkommission Umweltbundesamt: Das Bhopalunglück 1984, Kurzanalyse, Bewertungen, Schlußfolgerungen für die BRD. 8/1987
- Union Carbide Corporation: Bhopal methylisocyanat incident. Danbury, Connecticut, 3/1985 (engl.)
Rundfunkberichte
- Hellmuth Nordwig: Geschichte aktuell: Katastrophe ohne Ende. Deutschlandfunk Hintergrund, 3. Dezember 2009
- 30 Jahre Bophal, Eine Chemiekatastrophe ohne Ende. Deutschlandfunk, 3. Dezember 2014
Weblinks
- International Campaign for Justice in Bhopal (Bilder, Opfer, Union-Carbide-kritischer Dokumentarfilm u. a. auf der Website der britischen Campaign)
- 30 Jahre Bhopal: Die Chemie-Katastrophe dauert heute noch an. Aufnahmen vor Ort von 1984 und TV-Beitrag 20 Jahre nach der Chemiekatastrophe, SRF
- Recommendations of the International Team of Experts on the remediation of the former Union Carbide site in Bhopal (India). Greenpeace-Studie zur Sanierung (PDF-Datei; 100 kB)
- Informationen von Amnesty Schweiz zum Unglück und den Folgen
- Hasnain Kazim: Chemiekatastrophe von Bhopal – Stadt unterm Leichentuch. Der Spiegel, 2. Dezember 2009
- Bhopal – Im Schatten der Welt. Eine indische Katastrophe. Der Spiegel, 2. Dezember 2014